Frédéric Zwicker:
«Hier können Sie im Kreis gehen»
Tatort: Speisesaal eines Pflegeheims. Vergehen: da hat einer doch glatt seiner Tischnachbarin das Dessert weggefuttert! Mildernder Umstand: der Alte hat Demenz. Verdacht: was, wenn der gar nicht dement ist? Das ist in aller Kürze die Ausgangslage von Frédéric Zwickers Romandebüt «Hier können Sie im Kreis gehen».
Die Vorgeschichte: Mit 91 Jahren tritt Johannes Kehr den Rückzug aus seinem Leben an. Er schlüpft für den Rest seiner Tage in die Rolle eines dementen Greises. Seine Bühne ist das Pflegeheim. Er spielt nicht nur dem Pflegepersonal und den Mitbewohnern etwas vor, sondern auch seiner Enkelin Sophie, seiner letzten Angehörigen, zu der er noch eine tiefere Beziehung gepflegt hat. Er will ihr nicht zur Last fallen. Obwohl er weiterhin heimlich Zeitungen liest und Dorfspaziergänge unternimmt, gelingt ihm, sie alle zu täuschen. Dazwischen beobachtet er genauestens den Heimalltag, lässt dabei sein Leben Revue passieren oder unterhält sich mit dem Heimkätzchen, das ihn im Zimmer besucht. Sein Kartenhaus kommt erst in dem Moment ins Wanken, als seine Jugendliebe Annemarie ins selbe Heim einzieht – und sich fortan liebevoll um ihn kümmert.
Geschrieben wurde dieses Debüt über das Altern und Abschiednehmen vom 33jährigen Frédéric Zwicker, seines Zeichens Musiker, Slam Poet, Journalist und ehemaliger Pointenschreiber für «Giacobbo/Müller». Er schöpft aus eigenen Erfahrungen, die er während des Zivildiensts im Pflegeheim und noch einmal zur Abschlussrecherche viele Jahre später sammelte. Durchgehend positiv ist ihm diese Zeit nicht in Erinnerung geblieben: Das Bild, das er vom Alltag in dem Pflegeheim vermittelt, ist geprägt vom geistigen und körperlichen Zerfall seiner «Insassen», wie sie Johannes Kehr zu nennen pflegt.
Zwickers Sympathien gehören diesen Menschen, denen, die in Heimen leben, denen, die dort arbeiten, oder denen, die als Besucher ein- und ausgehen. Ihr Treiben schildert er mit meist liebevollem Blick und Gespür fürs Ironische. Enttäuschung und Bedauern prägen die Betrachtung von Kehrs Vergangenheit: Seit frühester Kindheit griff der Tod in sein Leben ein und entriss ihm immer wieder nahestehende Personen. «Ich war der Erste in meiner Familie, der es mit einem langen Leben probierte», erfahren wir einmal von ihm. Der Darsteller seiner eigenen Demenz hat viele Narben, die nie ganz verheilt sind, Wunden, die er tatsächlich lieber vergessen würde: die schmerzhafteste erinnert ihn an Paul, seinen Sohn.
Zwicker hat seinem Romanhelden eine einfache, natürliche Sprache verliehen. Diese erhält nur dann Risse, wenn Zwicker seine Erzählung mit Metaphern überlädt oder wenn er sich auf Unkosten seiner Charaktere auf Pointenjagd begibt. Dann tritt er als Autor zu sehr in den Vordergrund und die Sprache verkommt zum Stilmittel. Insgesamt aber wechselt Zwicker in seinen kurzen episodischen Kapiteln gekonnt zwischen Alltagsbeobachtungen, autobiografischem Erzählen und feinem Räsonieren: kurzweilig, amüsant, berührend und manchmal irgendwo dazwischen.
Frédéric Zwicker: Hier können Sie im Kreis gehen. Roman. Zürich: Nagel & Kimche, 2016.