Hunger und Brot
Wie mich der Roman «Nicht Anfang und nicht Ende» mit den Berglern versöhnte, obwohl sie fast immer anders abstimmen als ich.
«Heute, da ich die Welt durchwandert habe und weiss, dass man überall unter der Sonne verhungert, weiss ich, dass die Unglücklichsten die sind, die alles haben, weil sie sich nichts mehr wünschen können.»
aus Plinio Martinis «Nicht Anfang und nicht Ende»
Ich habe gerade «Nicht Anfang und nicht Ende» beiseitegelegt, ein Buch, das ins Tessin führt wie die Bahn, in der ich sitze. 1970 erschienen, geschrieben von Plinio Martini, einem Lehrer aus dem Maggiatal, der in dieser ebenso fiktiven wie realitätsnahen Biographie des Bauernsohns Gori mit kalten, harten Worten gegen die Verklärung des Tessins zur Sonnenstube anschreibt. Und das just zu dem Zeitpunkt, da Ferien- reisen in die Südschweiz für Deutschschweizer gerade chic, bequem und – wachsendem Wohlstand geschuldet – auch erschwinglich werden. Plinio Martinis Roman, den kaum mehr jemand kennt, gilt als das bis heute meistgelesene Werk eines italienischsprachigen Schweizer Autors.
«Nicht Anfang und nicht Ende» ist eine Zeitreise in die jüngere Schweizer Geschichte, eine gar nicht so ferne Vergangenheit, die vom dahinrasenden Fortschritt verschlungen wurde, als hätte es sie nie gegeben. Es ist die Vergangenheit unserer voralpinen und alpinen Vorfahren, aber auch die Vergangenheit der Babyboomer, die aus den Krächen gezogen sind und auf halbem Weg zwischen rural und urban in den Agglomerationen im Wohlstand stecken blieben. Es ist die Vergangenheit unserer Eltern, unsere Vergangenheit, die unserer Kinder. Es ist die Geschichte einer Entfremdung, ja vielleicht gar einer Verleugnung.
Und es gibt wohl kaum einen besseren Ort als die Gotthardbahn, um diesen Roman wieder zu lesen, denn ihr entlang werden die gesellschaftlichen Schichtungen der Vergangenheit und der Gegenwart sichtbar wie in einem «Ballenberg» des gewesenen Industrie- und gelebten Dienstleistungszeitalters: vom Hauptbahnhof Zürich mitten durchs frühere Arbeiter- und heutige Hipsterquartier Albisrieden, vorbei an der Finanz- und Rohstoffmetropole Zug, an Arth-Goldau, dem Paradies ohne Palmen, vorbei an der Eisenbahnergemeinde Erstfeld, Kanton Uri, weiter nach Gurtnellen, Wassen, Göschenen und hinein ins schwarze Loch, diese Radnabe des Fortschritts, des ganzen Alfred-Escher-Imperiums, das die Schweiz nach 1882 in die Moderne katapultierte.
Vor einigen Jahren bin ich für eine Reportage im Güterzug von Mannheim nach Erstfeld mitgefahren. Als ich in der rauchgeschwängerten Gaststube des Hotels Frohsinn gleich gegenüber vom Bahnhof die Lokomotivführer auf die Neat ansprach, den neuen Gotthardbahntunnel, der 2016 eröffnet werden soll und die Gemeinde Erstfeld das SBB-Depot und damit viele Arbeitsplätze kostet, merkte ich alsbald, dass die Bahnmitarbeiter Begriffe wie «Neat» oder «neuer Tunnel» vermieden. Sie verwendeten als Synonym: «Wenn der Berg weg ist.»
Wenn der Berg weg ist, dann verschwindet nicht nur manches Bahndepot, sondern für viele auch die Kirche von Wassen. Und die neun Minuten Dunkelheit, durch die ich jetzt gerade auf dem Weg ins Tessin rattere, weichen dem geschmeidigen Summen von 250 Stundenkilometern in einer 57 Kilometer langen Röhre – noch tiefer unten, im Fels. Was macht das mit uns?
In die Moderne katapultiert
Man kann das Buch von Martini lesen wie ich, als ich es das erste Mal in die Hand nahm. Die SVP-Masseneinwanderungsinitiative war gerade angenommen worden, und ich las von der Arroganz der Wohlstandsgesättigten, derjenigen, die keine Erinnerung mehr haben, haben wollen an die jüngere Vergangenheit des eigenen Elends. Bis in die 1950er Jahre hinein haben Hunger und Not die jungen Bauern aus den bitterarmen Bergtälern um den Lago Maggiore in die Flucht getrieben – auf der Suche nach einem besseren Leben. Aus den Tessiner Tälern sind seit 1870 rund 70 Prozent der Einwohner nach Kalifornien abgewandert. Wie können wir da, kaum 70 Jahre später, die Tragödie der Flüchtlinge vor Lampedusa achselzuckend hinnehmen, mehr noch: uns ohne jedes Mitgefühl gegen die leidgeprüften Migranten von heute stellen und die Einwanderungsschranken niedersausen lassen, gerade so, als wollten wir damit auch dunkle Erinnerungen an das eigene Elend erschlagen?
«Ich könnt ein ganzes Buch schreiben über all die Verunglückten, die ich selber gekannt hatte. (…) Verwandte von uns, die abgestürzt oder ertrunken waren, Leute, die sich oben in den Felsen verstiegen und zu spät entdeckt wurden, andere, die man nicht einmal mehr als Leiche fand» – so lässt Plinio Martini, geboren 1923 in Cavergno, seinen Gori in «Nicht Anfang und nicht Ende» die damalige Allgegenwärtigkeit des Todes im Tessin schildern. Die Erzählung, eine für diese Zeit typische Auswandererbiographie, wird mit Martinis poetischer Kraft zur wütenden, aber niemals jammernden Anklageschrift gegen das Verdrängen der Vergangenheit, in der sich das Rinnsal der menschlichen Existenz noch schicksalsergeben in den Fluss des grossen Ganzen fügte. Von Goris zwölf Geschwistern überleben nur neun ihre Kindheit. Zwei werden von Diphtherie dahingerafft, die älteste Schwester verbrennt mit sieben Jahren lebendigen Leibes, als sie der Feuerstelle in der Küche zu nahe kommt. Auch andere überleben die Härte des Alltags nicht, so etwa der Junge aus dem Dorf, «der fünfunddreissig Stunden lang im Sterben lag, weil ihm ein Felsblock, den man nicht wegwälzen konnte, die Beine bis zur Leiste zerquetscht hatte». Auf den ersten 20 Romanseiten, in denen Gori zur Auswanderung aus dem Val Bavona nach Kalifornien ansetzt und dafür die Liebe seines Lebens zurücklässt, wird nur verhungert, verunglückt und verschollen.
Im Mist geboren
Dabei rammen sich Martinis Schilderungen des Elends wie Käsemesser in die cremige Wohlstandsschweiz. Die Desillusionierung des späteren Rückkehrers Gori, der in Amerika nicht das ersehnte Glück, sondern verschwenderisch grosse Beefsteaks und quälendes Heimweh gefunden hat, verstärkt diesen Eindruck nur noch. Beschrieben wird das Zeitalter der Babyboomer, die sich in den 1970er und 1980er Jahren anschickten, erst die Autobahn durch die Alpen und dann die Einfamilienhäuschen im Mittelland zu erobern. Ihr Fortschritt erreichte die Täler nicht. «Im Mist geboren» sei er, sagt Gori, «das ganze Jahr über stecken wir drin, und wenn’s kein Mist ist, sind es Steine oder Dornenhecken. Dabei gibt es auf der Welt Gott weiss wie viele Länder, in denen man es leichter hat.» Um dann, nach der Rückkehr in seine Heimat, bei der er die Liebe seines Lebens beerdigt, seinen Vater gebrechlich, die Mutter behindert und die Alpweiden «bevölkert von Sommerfrischlern mit Autos und Kofferradios» vorfindet, zu resümieren, «dass das Glück aus einem Nichts besteht» und dass er «just dieses Nichts, das den Menschen glücklich macht, verloren hatte».
Als Geschichte eines entwurzelten Bauernsohns gelesen, der auf seiner Flucht aus der Armut doppelt heimatlos geworden ist – und direkt nach dem 9. Februar 2014 konnte ich das Buch tatsächlich nicht anders lesen –, ist «Nicht Anfang und nicht Ende» eine literarische Aufwallung des Geistes gegen die Eiseskälte der Wortführer des SVP-Mainstreams, der Flüchtlinge als Abenteuermigranten diffamiert, uns mit den Schachbrettern machiavellistischer Machtspielchen den Blick auf die Tragödien verstellt, uns mit seiner Rhetorik das Blut aus den Adern saugt, bis uns bei den Tiraden gegen Flüchtlinge nicht einmal mehr das gefrieren kann. – Die Säuberung des Migrationsdiskurses von letzten Überresten der Empathie. Was macht das mit uns?
Der Hinterwäldler in uns
Dieser Roman erzählt auch von der gerissenen Verlogenheit, die archaische Vergangenheit der vom Fortschritt entwurzelten, in Hors-sol-Landschaften aufblühenden Agglo-Schweiz in reaktionäres Erdreich für das Gedeihen und Verderben ihrer Zukunft umzupflügen. In gewisser Distanz zum Massen-Ja zur SVP-Einwanderungsinitiative erzählt Martini aber eben auch von der Wohlstandsverwahrlosung, die mit dem Auskotzen über die Hinterwäldler aus der urbanen Überflussgesellschaft hinauf in die Berggebiete schwappt wie eine unverdaute Geschichtsstunde, gerade so, als versuchten wir, den Hinterwäldler in uns entwurzelt wegzuschwemmen. Der Roman ist auch eine Anklage gegen die Arroganz und Ignoranz der Unsrigen.
«Vermutlich ist der Tourist, der anhält, um die Weiler des Val Bavona zu bewundern, vor allem von der Farbe der Häuser beeindruckt, deren Mauern sich oft mit Moos, Streifenfarn und Frauenhaar oder sogar Blütengarben schmücken. Ein ungewohnter und angenehmer Anblick für den aus dem Beton und Asphalt der Städte Kommenden», schreibt Plinio Martini im 20 Jahre nach seinem Tod erschienenen Erzählband «Nessuno ha pregato per noi» (auf Deutsch: «Und keiner hat für uns gebetet»), in dem er das Desinteresse am Schicksal der vom Fortschritt vergessenen Täler geisselt. Die «Architektur des Val Bavona», fährt Martini fort, «ist Ausdruck härtester Umweltbedingungen, unter denen die Mühen des Lebens an die Grenze dessen gingen, was ein Mensch ertragen kann».
Wenn der Autor den Gori schildern lässt, «mit welch unendlichen Mühen unsere Alten hier ein bisschen Erde zusammengekratzt hatten, gerade genug, um nicht Hungers sterben zu müssen», und nach einem Hochwasser «dort, wo sie geackert und gedüngt hatten, nur noch Geröllhalden erblickten», weckt das meine Erinnerungen an eine Reportage, die mich 2003 nach schweren Unwettern ins Berner Oberland führte: Ich stand in bis auf Tischhöhe mit Schutt und Schlamm aufgefüllten Wohnzimmern, die Berg und Tal zugewandten Wände der Chalets von den Naturgewalten weggedrückt. Und die Einheimischen diktierten mir Manifeste ihrer Widerborstigkeit in den Schreibblock: «Es spült uns ins Tal hinunter, und am nächsten Tag krabbeln wir wieder den Hang hoch.» Oder: «Die Lawine steht noch gar nicht still, schon schaufeln wir den Schnee weg.»
Warnung und Mahnung
«Nicht Anfang und nicht Ende» ist eine Warnung, uns vor dem Bergler in Acht zu nehmen, auch demjenigen in uns, der keine Vorstellung mehr hat von Tod, Elend und Flucht und der Natur nichts mehr abtrotzen muss, sich aber der Rhetorik der Not und Bedrohung bedient, um unseren Überfluss zu verteidigen. Keiner hat die Landesideologie des widerborstigen Berglers besser decodiert als Peter von Matt in seinem Literaturkanon «Das Kalb vor der Gotthardpost»: «Noch immer kommen sich Leute, die stadtnah und an bevorzugter Lage in angenehmen Villenquartieren leben, als geborene Bergler vor, spielen im Nadelstreifenanzug den politischen Wurzelsepp und werden dafür von den anderen synthetischen Berglern begeistert beklatscht.»
Der Roman ist aber auch eine Mahnung, nicht verächtlich auf die Alpenbewohner herabzublicken, deren Widerborstigkeit sich auch aus der tatsächlichen Erfahrung von Not, Elend und Entbehrungen speist. «Im stinkenden, verlausten Laderaum zusammengepfercht, von Hunger und Krankheit verzehrt, (…) von aller Welt verlassen, verloren und verwaist», beschreibt Gori die monatelange Schiffsreise auf der Flucht nach Amerika. Als «Glücksritt durch die Hölle» schilderte mir kürzlich ein Flüchtling, der vor Lampedusa aus dem Wasser gezogen wurde und den Weg in die Schweiz fand, die Flucht übers Mittelmeer nach Europa. «Ihr Deutschschweizer habt uns ja nicht bloss vergessen, ihr interessiert euch auch überhaupt nicht für uns», klagt der junge Tessiner, mit dem ich nach den neun Minuten Dunkelheit im Gotthardtunnel auf meiner Bahnreise ins Gespräch komme.
Es sind Sätze der Not und Ignoranz, damals wie heute, zeitlose Sätze aus der Vergangenheit, die in unserer Gegenwart weggedimmt werden – vom einschläfernden Surren und Schnurren des Fortschritts.
Christof Moser ist Politreporter und Medienkritiker bei der «Schweiz am Sonntag», freier Journalist und regelmässiger Autor des «Literarischen Monats». Ausserdem ist er Redaktionsleitungsmitglied bei infosperber.ch. Er lebt in Zürich.