Nichts bleibt, alles ist
Meinrad Inglins «Schweizerspiegel» von 1938 ist eine grosse Erzählung über das Zerfallen der alten Ordnung, den Untergang der gewohnten Welt – tröstlich und beunruhigend zugleich, vor allem aber: brandaktuell.
«Riechst du, wie es brenzelt? Es ist eure Welt, die zu brennen anfängt.»
Meinrad Inglin: Schweizerspiegel
Vielleicht erinnern Sie sich noch: Bei meiner letzten Buchbesprechung – «Simeliberg» von Michael Fehr – sass ich im Flieger nach Tel Aviv, mit dem Ziel, mich zu befremden. Jetzt hat mich das Befremden eingeholt, ist zu mir aufgerückt, deshalb flüchte ich davor.
Orbàn, Trump, vielleicht bald Hofer in Österreich, Le Pen in Frankreich und die AfD in Deutschland, der Brexit: die Fliehkräfte der Globalisierung treiben die Nachkriegsordnung des Westens auseinander wie ein hungriger Wolf eine blökende Schafherde. Die Welt, in der ich aufgewachsen bin und bequem eingerichtet war, zerbirst und zerfällt. Diesmal sitze ich im Flieger nach São Paulo, und als die Piloten in Zürich starten, ist Donald Trump gerade seit 48 Stunden gewählter Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. «Das Ende der Welt, wie wir sie kennen», titelt das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel», das auf meinem Schoss liegt, während ich den «Schweizerspiegel» von Meinrad Inglin zur Hand nehme und in einem bürgerlichen Sittengemälde der Schweiz im Ersten Weltkrieg lande. Und damit mitten in der Gegenwart.
Es ist eine Lesereise ins Zeitalter der Gehröcke, Kniehosen, Backenbärte, Bajonette und Pickelhauben – und doch ist Inglins Werk von einer Aktualität, wie dies selten über ein Buch gesagt werden kann, das noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erschienen ist. Eindringlich beschreibt Inglin, wie das bürgerlich-liberale Europa untergeht und mit ihm das Gefühl von Sicherheit, der Glaube an Vernunft, Fortschritt und Frieden – und die Geborgenheit der Konventionen. Nichts bleibt, wie es ist: Das war vor 100 Jahren so, das ist heute so, und es ist tröstlich und beunruhigend zugleich. «Die internationale Lage in den letzten Tagen, wie sie von den Menschen unseres Kontinents empfunden wurde, wäre höchstens mit dem noch unverhüllten Anbruch einer Naturkatastrophe von unvorstellbarem Ausmass zu vergleichen, mit einer nie gesehenen Verdüsterung des Himmels und einem andauernden unterirdischen Donnern. Am Horizont zuckten die ersten Blitze, und es war zu befürchten, dass sich der geschwärzte Himmel in Feuern entladen und der grollende Erdteil wanken werde, aber noch fehlten sichere Anzeichen, und vor allem fehlte jede vernünftige Erklärung dieser furchtbaren Möglichkeit», schreibt Inglin, und das könnte gerade so gut im aktuellen «Spiegel» stehen.
Meinrad Inglins politischer Roman, ein Wälzer von 973 Seiten, leider nur noch in einer überarbeiteten und von erotischen Explizitäten entschärften, um einen Viertel gekürzten Version von 1955 zu erwerben, geschrieben in den Jahren nach 1930, erschienen 1938 in Leipzig, verwebt eine Familiensaga mit dem historischen Panorama der Umbruchszeit zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert – und ist «das literarische Monument nationaler Selbstbehauptung in einer extremen Krisensituation, wie sie sich ähnlich zur Zeit der Abfassung in den dreissiger Jahren wieder abzuzeichnen begann», was ich bei Wikipedia nachlese. Inspirieren liess sich Inglin, der selber im Ersten Weltkrieg als Soldat Grenzdienst geleistet hatte und währenddessen die ersten Notizen für den späteren Roman verfasste, von Leo Tolstois «Krieg und Frieden». Erschaffen hat er damit eine helvetische Version der «Buddenbrooks», ein sachlich und schnörkellos geschriebenes Meisterwerk.
Seine Erzählung beginnt im Jahr 1912, als der deutsche Kaiser Wilhelm II. die Schweiz besucht, um sich die Manöver des Dritten Armeekorps vorführen zu lassen – ein Ereignis, dem der im Kanton Schwyz geborene Meinrad Inglin tatsächlich beigewohnt hat und das er, wie im weiteren Verlauf seines Romans den Fortgang der Weltgeschichte, gekonnt mit der fiktionalen Lebensgeschichte der drei ungleichen Brüder Severin, Paul und Fred, der Söhne des Brigadekommandanten und freisinnigen Nationalrats Alfred Ammann und dessen Frau Barbara, verwebt.
Oberst Ammann wird von Inglin als «Mann seiner Zeit, als Mann des Fortschritts und der Entwicklung» beschrieben, als «Demokrat vom Scheitel bis zur Sohle», als «Verkörperung der bürgerlichen Schweiz». Und: als Familienoberhaupt in der Krise. Zunächst verkauft der liberale Grossbürger den Familiensitz, «diesen letzten herrlichen Zeugen einer vornehmen bürgerlichen Kultur, anmassend und überheblich», 1765 angelegt und inzwischen umringt von Geschäfts- und Mietshäusern, einer Genossenschaft zum Abbruch – gezwungen durch das Wachstum der Stadt Zürich, zu dem auch sein Kapital beigetragen hat. Bescheiden und übervorsichtig gerät Oberst Alfred Ammann in die Strudel des Wandels, den er zugleich antreibt und ablehnt: «Seine Friedensliebe, seine Bequemlichkeit, seine Vernunft und jener auf Besitz, Einkommen und Familie gründende Bürgerstolz, der mit dem Gefühl der Überlegenheit über alles Unordentliche, Gewagte, Abenteuerliche verbunden war, sträubten sich heftig dagegen.» Zuerst kann Ammann seine Politik nicht mehr durchsetzen, dann verliert er auch das militärische Kommando: «Ammann konnte sich einfach nicht mit dem Gedanken abfinden, dass das kunstvolle Netz der internationalen Beziehungen reissen, die Sicherheit in Europa verschwinden und das gemeinsame Werk der Zivilisation in die Brüche gehen sollte», schreibt Inglin, der seinen Protagonisten während des ganzen Romans an Statur verlieren, dafür aber an Kontur gewinnen lässt – so wie auch alle anderen Figuren. Niemand hat diese literarische Arbeitsweise treffender gewürdigt als Ulrich Frei im Nachwort des 1987 vom Ammann-Verlag neu aufgelegten Hauptwerks von Meinrad Inglin: «Der ‹Schweizerspiegel› gleicht in seiner Kargheit an Farben und seinem Reichtum an Abstufungen nicht einem Gemälde, sondern einem Relief; die Figuren sind vergleichbar mit Skulpturen, die durch Abtragung, nicht Auftragung von Material herausgearbeitet werden.»
In der Krise von Oberst Ammann spiegelt Schriftsteller Inglin die Krise der Schweiz in den Kriegsjahren zwischen 1914 und 1918, als sie sich trotz Neutralität den weltpolitischen Wirren kaum noch entziehen kann. Zwischen der Deutsch- und der Westschweiz bricht ein Konflikt entlang der unterschiedlich gelagerten Sympathien für die kriegsführenden Nationen aus, was den «Anschein einer Verlängerung des ungeheuren Grabensystems zwischen Frankreich und Deutschland bis in die Schweiz hinein macht» und bereits kurz nach Kriegsausbruch einen ersten Höhepunkt in der umstrittenen Wahl von Kriegsgeneral Ulrich Wille findet, einer der zahlreichen, bis in historische Details eingearbeiteten Personen der Zeitgeschichte, um die sich Meinrad Inglins fiktionale Familiengeschichte spannt. Auch die sozialen Spannungen und Konflikte zwischen Bürgertum und Proletariat verschärfen sich mit zunehmender Nahrungsmittelknappheit und Teuerung, weiter angeheizt von den revolutionären Ereignissen in Russland: «Eine vielfältige fremde Propaganda durchdrang auf Schleichwegen und in hundert Masken angreifend, zersetzend oder aufstachelnd das Land. Tendenziöse Nachrichten ausländischer Agenturen und schweizerisch getarnter Zeitungen (…) buhlten um die Neigung des Volkes.» Und lange, viel zu lange hofft das saturierte Bürgertum um Oberst Alfred Ammann, dass die Verwerfungen an der Schweizer Grenze haltmachen: «Die bürgerlichen Realpolitiker, die das Unheil fast mit offenen Augen kommen sahen, glaubten an keine Gefahr, sie waren trotz wirtschaftlichen Nöten noch immer blind vor Stolz auf den Fortschritt und die Sicherheit in der Welt.»
Zum grössten Drama für Alfred Ammann wird die Tatsache, dass seine Söhne und alle männlichen Anverwandten, die Autor Inglin so geschickt wählt, dass sich an ihnen alle relevanten gesellschaftlichen Schichten und politischen Gruppierungen jener Zeit auffalten lassen, in die Wirren der Weltgeschichte hineingezogen werden. Demgegenüber stehen die Frauen – Ammans streng konservative Gattin Barbara, die sich engagiert und energisch um Kriegsversehrte kümmert, und Tochter Gertrud, die sich von ihrem Mann scheiden lässt –, denen Inglin in seinem «ausgesprochen männlichen Buch» (Klappentext) eher die zeitlosen Fragen des Lebens zuweist, allen voran die Wirren der Liebe, die im Fall der Scheidung von Gertrud für das selbstbewusste Aufbrechen der alten Ordnung im Privaten stehen.
Ammanns ältester Sohn Severin, Schriftleiter der bürgerlichen Zeitung «Ostschweizer», bringt mit seinen zunächst deutschfreundlichen, später offen rechtsradikalen Ansichten den Oberst zuerst in politische Schwierigkeiten und dann zur Einsicht, dass er und der gesamte Freisinn diese Tendenzen so lange nährten, bis ihnen diese Tendenzen über den Kopf wuchsen. Die Parallelen zur schweizerischen Politik mehr als 100 Jahre später sind ebenso frappant wie unheimlich.
Ammanns mittlerer Sohn Paul hingegen, der zuerst zu allem und allen analytische und intellektuelle Distanz hält und von Severin beim «Ostschweizer» als Redaktionsvolontär mit der Betreuung des Feuilletons beauftragt wird, neigt während der Frontdienstzeit immer stärker dem Sozialismus zu und wendet sich schliesslich offen gegen Vater und Vaterland: «In unserem schönen Vaterland wird um die Wette Kriegsmunition gemacht und nach allen Himmelsrichtungen verschickt. Man hat einen eigenen Papa, der an einem solchen Geschäft beteiligt ist und sich daran bereichert. Die Proletarier sind schmählicherweise gezwungen, daran mitzuarbeiten, wenn sie nicht verhungern wollen.» (…) «Dieses nationale Leben hat seinen Sättigungsgrad erreicht. Dieser Mangel an Selbsterkenntnis, an Einsicht in die wirklichen Zustände, diese Ungeistigkeit, Selbstsicherheit und Sattheit, dieser blinde und dumme Glaube an den Fortschritt.» Doch auch Paul, wie alle anderen in Inglins Roman, ist am Ende keine Heldenfigur: Als er vor Kriegsversehrten ohne Beine und Arme über die Unsinnigkeit des Krieges doziert, merkt er beschämt, dass er sie ein zweites Mal verletzt. Auch hier lässt sich eine Analogie in die Gegenwart ziehen: zur Arroganz der Wohl- und Besserwissenden, die mit empathieloser Verachtung über jeden und jede herziehen, welche die Welt nicht so sehen wollen – oder können! – wie sie selbst.
Paul lernt seine Lektion: als zum Ende des Romans der Generalstreik nach tödlichen Schüssen von Soldaten auf die Streikenden in einen blutigen Bürgerkrieg auszuarten droht, überzeugt er seine Genossen davon, dass der «rechtzeitige Gefechtsabbruch» keineswegs eine Niederlage, sondern im Gegenteil einen Sieg darstelle. Mit diesem Aufruf, Konflikte durch gut schweizerische Kompromisse zu lösen – die Moral der ganzen Romangeschichte –, mildert er auch die bittere Lebensbilanz von Vater Alfred Ammann.
Bleibt noch der jüngste Sohn Fred, vom Oberst als indifferent, unpolitisch und damit der Schweizer Demokratie unwürdig betrachtet, der sich dem städtischen Leben im Verlauf des Romans ebenso verweigert wie den Ideologien: «Die Unzufriedenen versuchen alles, und das Heer der Zufriedenen winkt hohnlächelnd ab. Nichts zu machen. Ja, wenn die Wahrheit mit Ohrmarken gekennzeichnet wäre! Aber welche von den tausend Wahrheiten, die heute verkündet werden, ist die Wahrheit?» Fred findet sein Glück auf dem Hof von Ammanns Bruder Robert, der sich politisch vom Freisinn abwendet – für Ammann eine weitere schwere Schmach – und zu den Mitbegründern der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei BGB gehört, der heutigen SVP. Fred wird mit seiner Rückbesinnung auf die Scholle, seiner Natürlichkeit und ursprünglichen Heimatliebe, zum grossen Missverständnis in Inglins Familiensaga. Als der Roman 1938 erscheint, wird seine grosse Erzählung der erfolgreichen Selbstbehauptung durch die Rückbesinnung auf schweizerische Traditionen und Werte in den neuerlichen Zeiten einer von aussen bedrohten Schweiz – diesmal durch nationalsozialistische und faschistische Nachbarn – sofort zur geistigen Landesverteidigung missbraucht. Das Roman-Manuskript wird an der Landesausstellung 1939 ausgestellt und im Armee-Reduit zum Pflichtlesestoff. Tatsächlich sah Inglin die Schweiz als Ergebnis der Aufklärung, als Europa im Kleinen – und verteidigte sein rationales Staatsverständnis, im Roman verkörpert vom geerdeten Fred, gegen die irrationale Vergötterung des Nationalen.
Was nun Inglins «Schweizerspiegel» so unfassbar aktuell macht, ist die Tatsache, dass darin alles seinen Anfang nimmt, was heute seinem Ende entgegenschlittert. Der Liberalismus des Grossbürgertums steuert in Inglins Roman auf den Scheitelpunkt seiner Macht zu, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs muss der Freisinn durch die Einführung des Proporzwahlrechts seine politische Allmacht abgeben, und dieser Wandel mündet in Konsensdemokratie und bald darauf in Sozialpartnerschaft, allesamt wirtschafts- und gesellschaftsliberale Konzepte, die eben erst noch gültig waren und denen durch die heutigen Verwerfungen der Garaus prognostiziert wird. Die Mittelschicht – «eine von der Erde nicht mehr gebundene Kraft, mit der fast alles möglich scheint», wie Inglin schreibt – hat im «Schweizerspiegel» ihre Zukunft noch vor sich und gilt heute als dem Untergang geweiht. Wir lesen in Inglins Roman von der Geburt einer Epoche, die ebenso wenig von Verheerungen des Krieges verschont noch von Verheissungen des Fortschritts vergessen blieb – und deren Sterben wir jetzt miterleben. Was kommt danach? In Meinrad Inglins Erzählung von Oberst Ammanns Niedergang liegt etwas Tröstliches, weil daraus Neues, Besseres geworden ist, und etwas Bedrohliches, weil der Umbruch von damals, dieses Zerbersten und Zerfallen der alten Ordnung, dem Umbruch von heute in vielem gleicht – und daraus auch die monströsen Ideologien des 20. Jahrhunderts erwachsen sind. Dass die Wirklichkeit nicht einfach besteht, sondern erwirkt werden muss – und auch verwirkt werden kann –, wie Inglin entlang seiner Figuren herausarbeitet, verleiht dem Roman seine zeitlose Intensität.
Sich dieser Wirklichkeit entziehen, vor ihr flüchten? Geht nicht, wie ich nach der Landung in São Paulo einmal mehr feststellen muss. Auf dem ersten Zeitungsaushang, der mir am Flughafen ins Auge springt, steht geschrieben: «A chegada do caudillismo em Washington» – die Ankunft des autoritären Führers in Washington.
Nichts bleibt, alles ist.
Christof Moser
ist Bundeshauskorrespondent und Medienkritiker der «Schweiz am Sonntag» sowie Redaktionsleitungsmitglied der Informationsplattform «Infosperber». 2017 startet er gemeinsam mit Constantin Seibt ein neues Medien-Start-up unter dem Arbeitstitel «Project R».