Online Spezial: Autobiographische Schweizer Comics?
Eine kleine Werkschau in der Schweiz
Menschen, das ist eine Trivialität, haben ein bestimmtes Bild von sich und der Welt, in der sie leben, und möchten auf eine bestimmte Weise wahrgenommen werden. Erzählen sie in autobiographischen Texten von sich selbst, versuchen sie natürlich, sich und die Welt auf eine bestimmte Weise darzustellen. Diese subjektive Sicht gerät nicht selten in Konflikt mit dem Wunsch der Leser oder Zuhörer, aufrichtige und authentische, an der anderweitig erfahrbaren Realität messbare Tatsachen zu erhalten. In autobiographischen Comics haben die Erzählenden neben Worten auch noch Bilder zur Verfügung, um die Leser von ihrer Sicht der Dinge zu überzeugen. Visuelle Möglichkeiten des Offenbarens, Vertuschens oder Variierens der vermeintlichen Wahrheiten kommen hinzu. Einige ausgewählte Beispiele schweizerischer Comicautoren illustrieren, wie diese ihr Leben auf dem Hintergrund ihrer regionalen Identität darstellen – oder eben gerade nicht.
Frederik Peeters
Wo immer das Gespräch auf autobiographische Comics kommt, wird Frederik Peeters’ «Blaue Pillen» als eine besonders rückhaltlose persönliche Lebenserzählung in graphischer Form genannt. Peeters zeichnet sich selbst, in den Sprechblasen und begleitenden Texten stehen seine Worte. Der 1974 in Genf geborene Künstler zeichnet in Schwarz-Weiss und mit markantem Strich seine Liebe zu einer HIV-infizierten Frau und deren kleinem Sohn genau so, wie er sie selbst erlebt hat. An Gesichtern und Gestik, am Grad der Düsternis der gezeichneten Hintergründe und vielem mehr werden Ängste und Hoffnungen, Liebe und Leid sichtbar, nicht eine Minute kommt Zweifel auf an der Authentizität des Dargestellten. Peeters reflektiert in Wort und Bild die spezifischen Probleme, die sich aus dieser Lebenssituation ergeben haben, und lotet zugleich die Möglichkeiten aus, derlei als Comic zu gestalten.
Kati Rickenbach
«Das muss alles echt sein!» – in einer witzigen Bildfolge zu Beginn ihres autobiographischen Bandes «Jetzt kommt später» reflektiert die Comickünstlerin Kati Rickenbach – geboren 1980 in Basel und seit 2005 in Zürich zu Hause – die allen Autobiographien inhärente Option, die eigene Vergangenheit aus der Distanz der Erzählsituation umzugestalten und das damalige Alter Ego mit mehr Dichtung als Wahrheit darzustellen. In sechs aufeinanderfolgenden Paneelen zeichnet sie mögliche Lügen, die ihr und ihres Lebensgefährten Leben mit wenigen Strichen und fast ohne Worte zu einem völlig anderen machen würden. «Okay, ich hab’s kapiert», sagt der Mann auf den Bildern, und auch wir Leser haben eine Lektion in gezeichneter Autobiographik gelernt! In lebensvollen Schwarz-Weiss-Zeichnungen werden auf fast 300 Seiten die beiden Aufenthalte der Illustratorin in Hamburg, 2004 und 2009, erzählt. Gezeigt werden die im Abstand von fünf Jahren sich ändernden Beziehungen, Lebensformen und Arbeitsweisen Rickenbachs und ihrer Freunde, ihre Schrägheiten und liebenswerten Charaktereigenschaften. Immer wieder macht die Diskrepanz zwischen Gesichtsausdruck und Sprechblaseninhalt der gezeichneten Figuren den Mehrwert des graphischen Buches aus. Ab und an wird Kati im Buch als «Die Schweizerin», mitunter als die «schöne Schweizerin» bezeichnet, Etikettierungen von aussen, die sie so stehen lässt, in denen sich jedoch ihr Bezug auf das Herkunftsland erschöpft.
Cosey
Als ein dezidiert schweizerischer Comic, genauer eine fiktionale Graphic Novel, ist Coseys «Auf der Suche nach Peter Pan» zu bezeichnen. Die unterhaltende und spannende Handlung der Geschichte ist stimmungsgebend im Wallis situiert, sie ist frei erfunden und hat sogar ein märchenhaftes Happy End. Vorwort und Anhang des Bandes informieren über die Sozialhistorie des Wallis zu Beginn des 20. Jahrhunderts und über den persönlichen Werdegang des Künstlers Cosey alias Bernard Cosandey, der in Pully lebt. Eingebettet in diese Fakten ist die fiktionale Handlung in Bild und Text als für die reale Lebenswelt Coseys symptomatisch anzusehen: es ist gefühlt, nicht erfunden, was da ohne Kitsch an Heimatgefühl und Verbundenheit mit der Bevölkerung und ihren Sorgen zum Ausdruck kommt. Nur im Comic gibt es die hier genutzte Möglichkeit, die autobiographische Dimension einer Erzählung sichtbar zu machen: Der Protagonist Melvin Woodworth, englisch-kroatischer Dichter, der mit einem sympathischen Gauner und dessen Tochter in ein Abenteuer verwickelt wird, ist – leicht erkennbar – mit den Gesichtszügen Coseys gezeichnet und äussert mehrfach dessen Vorstellungen von Poesie und den Schwierigkeiten, Schriftsteller zu sein. Ein schweizerisches Comiczeichnerleben und seine Erfindungen…
rittiner&gomez
Ebenfalls im Wallis finden wir uns wieder, wenn wir das wunderschöne Heft «Polenta» des fiktiven Zeichnerduos rittiner&gomez aus Spiez am Thunersee betrachten. Das Spiel mit der Wahrheit betrifft hier also schon die Person des Autors, sehr wirklichkeitsgetreu ist jedoch die graphische Erzählung selbst: Ein jährlich stattfindendes, reales Fest wird gezeichnet, «mit Köchen, Wölfen, Dohlen, Guggenmusik und Gästen in Simplon-Dorf», dem Heimatort von Anton Rittiner, der, um malen zu können, sich ein Alter Ego, Gomez, erfunden und zugleich wieder durch ein «&» zum «wir» verbunden hat. Er bewohnt die Schweiz, doch zugleich die imaginäre «isla volante», einen Ort des Friedens und der Kunst, situiert im Internet und ausgestattet mit einem eigenen Literaturpreis, zahlreichen Mitmachmöglichkeiten für Leser. In «Polenta» reichen wenige Sätze, die verschachtelte, einander ebenso ergänzende wie aufhebende Bilder begleiten, um eine fast fühlbar reale Wiedergabe des dörflichen Festes und der Gefühle des Erlebenden zu erreichen, obwohl dieser weder sichtbar ist, noch kaum je «ich» sagt. Bild und Text wurden, wie im «Vorspann» des «Projektes» vorausgeschickt, aber auch bewusst kombiniert, um eine fast mystische Stimmung herzustellen: «ein bergdorf in einer wilden landschaft, ein kulturelles ereignis, die leichtigkeit des fliegens und die geheimnisvollen wölfe, also alles, was man sich nur wünschen kann» – der Stoff, aus dem grosse Erzählungen sind.
Heini Andermatt
Heini Andermatts «Tagebuchcomics», sehr kunstvolle, expressiv und ungewöhnlich gezeichnete Arbeiten, sind im «Züritipp», in «Strapazin» und im Selbstverlag erschienen. Andermatt arbeitet nicht mit fortlaufender Handlung, hier werden subjektive Erlebnisse unter dem Datum ihres Geschehens gebündelt. Zumeist begleiten kurze Texte unter den Bildern das Geschehen, manchmal ergänzt durch Sprechblasen. Das Personal ist nicht immer durchgehend identifizierbar, jedoch glaubt man bei genauerem Hinsehen den kahlköpfigen, 1960 in Luzern geborenen Zeichner vom Photo auf seiner Website wiederzuerkennen. Manche Bilder muten mit ihren knappen Untertiteln wie gemalte Haikus an, eigenartige Aussagen über persönlich erlebte Augenblicke ohne epischen und kommunikativen Anspruch. Diese autobiographischen Comics – Andermatt selbst nennt sie so – enthalten Phrasen wie «Zmorgen», «Schöns Tägli no» – und verorten so beiläufig den Sprechenden in der Schweiz.
Sie sehen: Autobiographisch, schweizerisch, komisch – das ist eine Kombination, die wohl noch viel mehr als diese fünf Varianten hervorbringt. Es gilt, das Genre zu entdecken.