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Pascale Kramer: «Die unerbittliche Brutalität des Erwachens»

Pascale Kramer:
«Die unerbittliche Brutalität des Erwachens»

 

Finden Sie den Fehler: beängstigend, gierig, Groll, unangenehm, Baby, feindselig. Richtig: Das kleine Menschenwesen tanzt aus der düsteren Wortreihe. Wer es in die Nähe derart negativer Begriffe rückt, muss entweder ein ausgemachter Misanthrop sein – oder wie Alissa, die Protagonistin aus Pascale Kramers Roman «Die unerbittliche Brutalität des Erwachens», an einer postnatalen Depression leiden. Diese Diagnose scheint dazu angetan, kinderlose Leserinnen zu vergällen, doch schafft es die Autorin, die spezifischen Ereignisse einer familiären Kleinstwelt durch mikroskopische Beschreibungen zu Gegenständen allgemeinen Interesses zu vergrössern. Im Thema der unglücklichen Mutterschaft versammeln sich wie in einem Brennglas die enttäuschten Gelingensansprüche ans Leben, mit denen so manch einer hadert.

Alissa freilich ist nicht irgendwer. Von ihren Eltern nach dem Prinzip «Das Kind ist König» erzogen, in der Familie als Schönheit verhätschelt und im College zur weiblichen Hälfte eines beneideten Traumpaars avanciert, ist die Amerikanerin sicher, auf einer gradlinigen Siegerstrasse unterwegs zu sein. In der Absicht, die nächste Glücksstufe zu erklimmen, bringt sie mit 27 Jahren ein Kind auf die Welt – und die ihre damit komplett aus den Fugen. Una, wie das Baby sinnigerweise heisst, erweist sich nämlich nicht als putziges Dekor, das ein strahlendes Paar noch besser in Szene setzt, sondern als veritable «Nummer 1», die vorerst nichts gibt, sondern nur fordert, überfordert und da ist, da ist, da ist, immer da ist, auch wenn Alissa aus Verzweiflung die Tür hinter dem Gebrüll schliesst, sich ins Shoppingcenter flüchtet oder gar ins Hotel ausreisst. Der Verantwortung ist nicht zu entrinnen.

Wie aber wollte ein Mensch Verantwortung für ein fremdes Leben übernehmen, wenn er noch nicht einmal bereit ist, es für sein eigenes zu tun? Es sind solche Fragen, die dem Roman eine reflexive Brisanz verleihen, die weit über den geschilderten Einzelfall hinausreicht. Denn wenn Kramer aus nächster Nähe verfolgt, wie die kleine Familie in den ersten Wochen ihres Zusammenlebens hilflos auseinanderdriftet, entwirft sie dabei zwar primär das Bild einer jungen Frau, deren Selbstbezogenheit ans Pathologische grenzt, macht aber gerade mit dieser Überzeichnung zugleich eine Anspruchshaltung kenntlich, die weitum schlummert: In Alissas prinzesschenhaftem Selbstverständnis spitzt sich die Lebenseinstellung einer Generation zu, die nicht mehr nach dem Glück strebt, sondern es schlicht erwartet – und lieber die Welt, sprich die Mutter, den Partner oder die Gesellschaft, auf Niedertracht und Ungerechtigkeit verklagt, als das Leben selber in die Hand zu nehmen, wenn es sich anmasst, anders zu verlaufen als im Märchen verheissen.

Dass sich Fehlverläufe anderswo drastischer gestalten, nimmt Alissa, derart vom Leben gekränkt, nicht mehr wahr. Doch während sie sich zusehends in ihren äusserst dicht – wenn auch zuweilen unnötig explizit – beschriebenen Kokon aus Selbstmitleid und Fremdschuld einspinnt, kommt der Leser seinerseits nicht umhin, ihr Schicksal mit einem anderen zu kon-trastieren: Klug und unaufdringlich lässt die Autorin mit einem Irakkriegssoldaten eine zweite Figur auftreten, die vom Leben getäuscht wurde – und wider Erwarten nicht als Held, sondern als Krüppel aus der Wüste zurückkehrt. Ohne die beiden Charaktere psychologisierend zu durchdringen oder gar zu vergleichen, beschränkt sich Kramer darauf, mit grausam guter Prosa unerbittlich klarzumachen, dass Glück und Garantie ein unmögliches Wortpaar bilden. 

Pascale Kramer: Die unerbittliche Brutalität des Erwachens. Zürich: Rotpunkt, 2013.

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