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Überfahrt mit Zombie

Eine Einleitung

Wenn ich als Kind mit meinem Solothurner Grossvater unterwegs war, forderte er mich bei jedem Wegkreuz auf, mich zu bekreuzigen. Mein Innerschweizer Grossvater sass zwar lieber in der Werkstatt als auf der Kirchbank. Doch als meine Zürcher Grossmutter ihn in den Fünfzigern heiratete, musste sie als Reformierte trotzdem einen Kurs über interkonfessionelle Ehen besuchen. Beide Grossväter sprachen oft von einem anderen Innerschweizer: Bruder Klaus. Bruder Klaus, der seine Familie zurückliess, um sich als Einsiedler selbst zu verwirklichen. Bruder Klaus, der Heilige der «geistigen Landesverteidigung», der die Schweiz angeblich während des Zweiten Weltkriegs vor einer Nazi-Invasion bewahrte. Bruder Klaus, der Aussteiger; Bruder Klaus, der Pazifist. Und Bruder Klaus, der Hipster: als ich mir einen Vollbart stehen liess, schnauzte mich mein Grossvater an, ich solle mich gefälligst rasieren, ich sehe ja bald aus wie Niklaus von Flüe.

Mit achtzehn trat ich zwar aus der Kirche aus, da hatte sich die Figur aber bereits in mir festgesetzt. So wurde mir ganz komisch, als ich während einer Spanienreise vor dem Grab des Kolumbus stand. «Das muss doch ein anderer gewesen sein!», dachte ich mir. Vor mir sah ich Niklaus von Flüe auf einem Floss. Getrieben von Halluzinationen zwingt er seinen Sohn Hans, mit ihm das Meer zu überqueren. Und entdeckt nebenbei einen neuen Kontinent. Ich wollte einen Menschen in die Neue Welt schicken, der mit der Welt nichts anfangen kann. Zwischen Kolumbus und Bruder Klaus gibt es eine Gemeinsamkeit: beide folgten ihrer Gier. Nur fiel sie beim einen spirituell, beim anderen weltlich aus. Manche Kollegen aus dem Literaturbetrieb reagierten eher befremdet auf den Roman. Warum ich nicht über Gegenwartsthemen schriebe, wurde ich gefragt. Dem möchte ich entgegnen: Väter, die sich nicht um ihre Familien kümmern, gibt es auch heute zuhauf, genauso wie Menschen, die ihr Heil in grossen Abstraktionen suchen. Und wer sich, wie Klaus von Flüe und sein Sohn, mit aller Konsequenz in die Suche nach einem übergeordneten Sinn stürzt, wird heute erst recht auf eine grosse Leere stossen.

Mehrfach wies man mich darauf hin, der Niklaus von Flüe des Romans habe nichts mit dem «echten» von Flüe zu tun. Das wäre ein Problem, wenn es denn einen «echten» von Flüe gäbe. Bruder Klaus war schon immer vor allem eine Projektionsfläche, sei es für die Friedensbewegung oder die SVP-Sünneli-Schweiz. Wer von Flüe wirklich war, wird sich nie bestimmen lassen. Klar ist nur, dass er nicht totzukriegen ist.

Figuren der literarischen Imagination, seien sie fiktiv oder historisch verbürgt, stehen uns oft näher als die Fratzen schneidenden Politiker, die unsere Bildschirme bevölkern. Und nicht nur das, sie kommen uns auch eher wie lebende Menschen vor. Ich glaube: um die Wirklichkeit wenigstens annähernd zu fassen, muss man an ihr vorbeischreiben. Und um lebendig zu schreiben, hält man sich besser nicht an die Lebenden, sondern an die Untoten. Und Bruder Klaus, diese fast schon dämonische Nationalfigur, ist einer der wichtigsten Zombies unseres an Zombies so reichen Landes.


Adam Schwarz
ist Schriftsteller und Journalist. Sein Erstling «Das Fleisch der Welt oder Die Entdeckung Amerikas durch Niklaus von Flüe» erschien dieses Jahr bei Zytglogge. Er lebt in Leipzig.

 

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