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Zora del Buono: «Gotthard»

Zora del Buono:
«Gotthard»

 

Was für eine Reise! An ihrem Ende findet sich der Leser, ähnlich entgleist wie der Eisenbahn-Fetischist Fritz Bergundthal, in der Berliner Wohnung des letzteren wieder. Das Erlebte fiebert nach. Die rasch herbeibeorderte Italienischlehrerin, eine Olivia Mancini, stellt labsame Häppchen auf den Salontisch, vor dem man auf dem Sofa mitsamt seiner Seele ausrangiert ist und die Wirklichkeit merklich an Farbe verliert, verblasst, verschwindet, als wäre sie niemals da gewesen.

Was ist passiert? Fritz Bergundthal ist ins Tessin gereist. Zum Gotthard, wo es Lokomotiven in dem Augenblick zu fotografieren gilt, da sie aus dem Tunnel geblocht kommen. Angetroffen hat er auch eine Handvoll Menschen, vom Leben am und im Berg bis in die innere Physiognomie durchformt. Ein Mikrokosmos aus Tunnelarbeitern, Huren und Nachbarn. Mit bizarren Namen, so als hätte Fellini sie einstmals geträumt. Da wäre zum Beispiel Dora Polli-Müller, die Tag für Tag im Garten ihres Häuschens grad unter der Autobahn irgendetwas anstreicht, Tag für Tag im Bikini, «grossblumig und bunt und ziemlich knapp». Ihr Mann Aldo braust derweil auf dem Motorrad durch die Gegend. Früher hat er zu den Tunnelarbeitern gehört. Doch nach einem mysteriösen Vorfall im Jahre 75 hat er angefangen, sich in sich selbst zu verkriechen, wozu unbedingt der Helm gehört, den er am liebsten auch beim Schlafen tragen würde. Überhaupt ist der Kopf in dieser Novelle in ständiger Gefahr. Flavia, die burschikose Tochter mit dem «Freihäitstigg», ist die einzige Frau unter den vermännerten Arbeitern, die sich an den Felswänden entlangschleichen und sich den vom Schweiss verklebten, juckenden Rücken wundschaben. Abends zecht sie mit ihnen. Und ihr Blick folgt ihnen eifersüchtig, wenn sie mit der drallen Monica das Neves Teixeira aufs Zimmer verschwinden. Aber die Erotik knistert nicht in dieser Geschichte. Sie rumpelt wie der «TEE RAe II 1053 Gottardo» auf dem Schienenweg durch den Tunnel. Es geht um die Sehnsucht nach dem Exzess, nach dem Schrillen, Lauten, das die Wirklichkeit zerschneidet. Und natürlich stöhnt es psychoanalytisch aus der Tiefe des Gotthards heraus. Rein also in die Finsternis mit ihrer unermesslichen Tiefe! Und sobald man dem lustvoll-dröhnenden Dunkel entkommen ist, gleicht man einem «aus der Erde kriechenden Wurm, weisshäutig und fahl».

Es ist schon einmal ein Schweizer Schriftsteller zum Gotthard gereist, um sich vom Berg verschlucken zu lassen. Gäbe es einen Dialog zwischen Zora del Buonos «Gotthard» und Hermann Burgers «Die künstliche Mutter», so raunte die eine dem anderen wohl zu: «Hör auf, deine Seele auszuziehen! Du kommst ja doch an kein anständiges Ende damit. Mach lieber etwas Praktisches: zieh die Schuhe aus!» Anstatt sich auf den verschlungenen Pfaden des Unterbewussten zu verlieren, beobachtet Zora del Buono lieber, was an der Oberfläche passiert. Und wie sie das tut, ist einfach nur zum Niederknien. Sie sieht den Lippenstift, der in die zahllosen Mundfältchen geflossen ist, so dass sie «wie rot geschwungene Miniaturkämme» aussehen. Ihr fällt die Kapernfrucht auf, deren Stiel mit den Schneidezähnen abgebissen wird. Von einem, der im Laufe der Zeit zehn Zentimeter kleiner geworden ist, schreibt sie: «Auch sein Auftreten war geschrumpft.»

Was als verschlafene Bestandesaufnahme eines Häufchens vom Zufall an den Gotthard geworfener Menschen beginnt, entwickelt sich so Seite für Seite zu einem immer surrealeren Gebilde, das das lesende Auge bald höhlenartig aufreisst, während ihm die Bilder immer schneller entgegengeschleudert werden. Und dann findet man sich am Ende dieser meisterhaften Novelle in der biederen Stube des Fritz Bergundthal, das Nachfieber im Kopf, die Bildblitze auf der Netzhaut, während um einen herum die Wirklichkeit ihr zahnloses Gebiss zeigt und alles in einem mehr will von dem Schrillen, dem Lauten, dem Überbordenden.

Zora del Buono: Gotthard. München: C.H. Beck, 2015.

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