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Das Fenster über dem Abgrund

Mit dem ersten und auch schwierigsten Kapitel des Romans «Du bist in einer Luft mit mir» von Ruska Jorjoliani, einer jungen, Italienisch schreibenden Georgierin, reiste ich im April an ein Fortbildungsseminar in Berlin. Dort wurde meine Übersetzung (wie jede andere auch – darin besteht das Konzept dieser Seminare) von kritischen Berufskolleginnen und -kollegen besprochen. Wie […]

Mit dem ersten und auch schwierigsten Kapitel des Romans «Du bist in einer Luft mit mir» von Ruska Jorjoliani, einer jungen, Italienisch schreibenden Georgierin, reiste ich im April an ein Fortbildungsseminar in Berlin. Dort wurde meine Übersetzung (wie jede andere auch – darin besteht das Konzept dieser Seminare) von kritischen Berufskolleginnen und -kollegen besprochen. Wie erwartet, sorgten einige komplizierte Stellen für Diskussionsstoff. Fallen können aber, wie sich einmal mehr zeigte, auch bei vordergründig unproblematischen Wörtern wie «finestra» lauern. Wer würde das nicht mit «Fenster» übersetzen wollen? Aus «Macché, vecchio burlone, (…) tappa una volta per tutte questa finestra spalancata sull’abisso» war bei mir geworden: «Ach was, alter Witzbold, (…) stopf das Fenster über dem Abgrund ein für alle Mal zu.» Mehrere Teilnehmer(innen) fanden das «Fenster über dem Abgrund» merkwürdig. Lag es an der Blickrichtung, also daran, dass man tendenziell waagrecht aus dem Fenster, aber senkrecht in einen Abgrund blickt? Ein wichtiger Punkt ist, dass der «Abgrund» in diesem Satz eine Metapher für den Ort ist, an dem verdrängte Erinnerungen lauern. Für diesen übertragenen Sinn ist «Fenster», wie sich im Gespräch herauskristallisierte, ein zu technischer, gegenständlicher Begriff. Zudem bezeichnet «zustopfen» das Verschliessen von Dingen, die eher kleiner sind als ein Fenster. Das an sich einfache Bild war im Deutschen also noch nicht stimmig. Um diese Stimmigkeit zu erzeugen, darf man vom Wort «Fenster» aus ruhig einen Schritt zurück Richtung «Öffnung, durch die Licht gelangt» machen und von dort aus nach einer passenden Lösung suchen. Dem Rotpunktverlag habe ich schliesslich die Variante «Hör schon auf, alter Witzbold, (…) stopf das Guckloch über dem Abgrund ein für alle Mal zu» abgegeben. Vielleicht wird der Satz so im Buch stehen, vielleicht auch nicht: erst wenn er in Druck geht, ist er vor der Lektorin, dem Korrektor und mir selbst in Sicherheit.

Barbara Sauser übersetzt aus dem Italienischen, Russischen, Französischen und Polnischen. Sie lebt in Bellinzona.

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