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Jens Steiner: «Carambole»

Jens Steiner:
«Carambole»

 

Rien ne va plus! Ist der Einsatz gemacht, die Farbe gewählt und die Kugel am Rollen, lässt sich der Lauf der Dinge nicht mehr ändern. Zwar lädt uns Jens Steiner nicht an den Roulettetisch, das Gros der Spieler, die an seiner Carambolerunde teilnehmen, hadert aber mit genau jener Unmöglichkeit, die Partie spät noch zu wenden – und das Leben nach gemachten Erfahrungen oder erlittenen Prägungen in neue Bahnen zu lenken. Spielfeld des zweiten, im Oktober mit dem Schweizer Buchpreis bedachten Romans des Zürchers ist die Schweizer Provinz, ein Dorf mit drei Wirtshäusern, zwei Sonderlingen und einem glanzlosen Tennisstar; Gewöhnlichkeit und Langeweile bilden die Grundierung des Tableaus. Nichts geschieht hier, möchte man meinen – doch alles sieht man auf diesem Brett, wenn man wie der Autor einen mikroskopischen Blick auf die alltäglichen Züge der einzelnen Menschen wirft und mit dem Hörrohr in die Stille horcht, die zwischen ihnen herrscht.

Eine Vielzahl dieser Dorfbewohner tritt als Ich-Erzähler auf in Steiners Spiel, das mit seiner Struktur auch ein theatrales sein könnte: Als stünden sie an der Rampe, monologisieren die Figuren nacheinander auf den Leser ein, berichten in stockender oder schwallender Rede von den Wunden und Wehen ihrer Leben, bleiben ohne Gegenüber in ihren eigenen Biographien gefangen – und teilen als minimalste Gemeinsamkeit doch eine Einheit von Zeit, Ort und Handlung, denn in fast alle Rapporte ist ein Sommertag eingeflochten, an dem im Dorf ein Mädchen vergewaltigt wurde und eine Fabrik explodierte.

Der zugehörige Knall und die schwarze Rauchsäule fungieren als Orientierungspunkte im Dickicht der Einzelschicksale und ermöglichen es dem Leser, die Miniaturen, die jedes Kapitel entwirft, zu einem Mosaik zusammenzusetzen und zu erahnen, was einzelne Charaktere miteinander verbindet – oder vielmehr voneinander trennt: Wenn eine Mutter am Schweigen ihrer pubertierenden Tochter verzweifelt, jene ihre gleichentags erlebte Vergewaltigung noch nicht einmal vor sich in Worte zu fassen vermag und ein Schulkamerad den Übergriff, unter der Erde in der Kanalisation einem Molch nachjagend, als Explosion im Kosmos seines eigenen Körpers (mit)erlebt, lassen zeitliche Überschneidung und räumliche Nähe die existenzielle Ferne zwischen den einzelnen nur umso schärfer hervortreten.

Zwar lässt Steiner die meisten Figuren in der Einsamkeit ihrer parallelen Lebensläufe verharren und schafft so ein trotz einiger halbhumoresker Einsprengsel tieftrauriges Buch. Ganz ungenutzt verflüchtigt sich das metaphorische Potential der Explosion aber nicht: Die Frau etwa, die die Stille ihres Kindes und das wöchentliche Weinen ihres Manns in sich hineinfrisst, lässt am Tag des Knalls endlich einen Teller an der Wand zerscheppern und stellt sich an die nächste Strassenkreuzung – mit der Absicht, in eine neue Richtung zu gehen.

Doch was bestimmt die Bahn eines Lebens, was vermag der Wille auf jenem Feld, auf dem zufällige Kollisionen neue Konstellationen schaffen, eine Berührung Steine ins Rollen bringt, fremde Kräfte Vertrautes sprengen und andere Spieler in den Abgrund drängen? In einem Altherrenklub, der sich im Dorf zu Carambolepartien trifft und mit seinen drei zwar ebenfalls verwundeten, aber sich gegenseitig stützenden Mitgliedern den vielleicht berührendsten Mikrokosmos des Romans bildet, finden solche Fragen eine philosophische Fundierung, schwankend zwischen Gramsci und Epiktet. Ob man den Menschen wie ersterer als «Herr seiner Selbst» oder wie letzterer als «Schauspieler in einem vom Spielleiter bestimmten Drama» begreift, ist freilich für das Leseerlebnis irrelevant: Klar ist, dass Steiner die Rolle des Spielleiters beherrscht und die Fäden in seinem Roman auf geschickte Weise so fein zieht, dass der Mensch in seiner Alltäglichkeit zur dramatischen Figur wird.

Jens Steiner: Carambole. Zürich: Dörlemann, 2013.

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