Die Kunst des sprechenden Schweigens
Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling. Berlin: Suhrkamp, 2014.
Es war einmal ein junger Mann. Er stand auf der London Bridge und verkaufte die Obdachlosenzeitung. Er war «gross, schlank, trug eine schwarze Lederjacke» und hatte ein Feuermal im Gesicht. Eine nicht mehr junge, fremde Frau ging auf ihn zu, blieb vor ihm stehen, war erst entsetzt über die Entstellung, dann hingerissen. «Ich erinnere mich an Sie», sagte der Mann, und als die Frau nach einer Weile gehen wollte: «Kommen Sie morgen wieder?» Zweihundert Seiten später ist der Mann verschwunden. An seiner Stelle steht ein weisses Fahrrad. Die Frau ahnt die Bedeutung.
Anfang und Ende eines herkömmlichen Märchens, einer gängigen Love Story, eines verworrenen Traums? Nichts von alledem – oder alles zusammen. Immerhin handelt es sich um einen Roman von Gertrud Leutenegger. Bedeutet: zwischen den thematischen Eckpfeilern wird die übliche Gangart aufgebrochen, die Schreibe bewegt sich nicht zielorientiert und die Zeit läuft vor- und rückwärts – oder steht still. Schon in den Anfängen ihres Schreibens war die 1948 geborene Schwyzerin dem «befreiten» literarischen Sprechen verpflichtet, der «écriture féminine». Was als Kampfansage (in den 70er und 80er Jahren) unter der Flagge «Die Syntax umstürzen» durch weibliche Schreibstuben hallte, ist in der Zwischenzeit allerdings ins grosse, beliebige Gewässer verschiedener Stilrichtungen eingeflossen und bedarf längst keines Befreiungsrufes mehr.
So hat sich denn das Gebot der weiblichen Sprache zum Wort-Ton der Gertrud Leutenegger gewandelt und ist vom Stilwillen – der leicht zum Styling verkommt – zur eigenen Stimme geworden. Und das heisst auch in diesem Fall: der Roman ist schlechthin ein Geschichtenbuch. Um nicht zu sagen: ein Bilderbuch. Der Inhalt zwischen Anfang und Ende gleicht einer Patchwork-Decke: Ein Geschichtenfragment folgt dem nächsten, wird mit den vorhergehenden verwoben, wird wiederholt, fortgesetzt, weicht neuen Mustern… Die Erzählzeit scheint aufgehoben. Träume, Erinnerungen, Gefühle, Gerüche, Farben, Formen, Laute – das ist der Stoff, aus dem Gertrud Leuteneggers Geschichten sind. Zusammengehalten wird dieses Fliessen nach allen Seiten von der Ich-Instanz, der namenlosen Erzählerin.
Die Frau geht nach dem ersten Treffen wieder zur Brücke und sucht Jonathan, den Zeitungsverkäufer. Die erneute Begegnung lässt Erinnerungsbilder aus ihrer Kindheit entstehen, bunte, pralle Bruchstücke, hochaufgeladen mit sinnlicher Symbolik. Und sie beginnt zu erzählen, steigt hinab in ihre behütete Kinderzeit in Schwyz, ins Sommerhaus, den alljährlichen Ferienort, in die Studierstube des katholischen Priesters, zum Onkel, zu den verschrobenen Tanten, auf den gruseligen Dachboden… Und auch Jonathan schaufelt zögernd Fragmente zutage: Spott, Ausgelacht-, Ausgegrenzt-, Gedemütigtwerden – seelische Versehrungen eines durch die Gesichtsentstellung Gezeichneten. Dann die Rettung durch die Grossmutter, die den Buben zu sich nahm und in Cornwall Schutz und Zuneigung gab. Bis sie starb, im Lehnstuhl sitzend, wo der junge Mann sie fand und floh…
Es wird nicht erzählt, was der Mann und die Frau füreinander empfinden – nicht wortwörtlich. Von Liebe ist nicht die Rede, es gibt keine Berührung zwischen den beiden. Ihre «Liebesgeschichte» wird mit vielerlei Dunkel umstellt. Aber sie ist vorhanden, existenter, als würde sie ausgeplaudert. Es ist die Kunst des sprechenden Schweigens, die Gertrud Leutenegger souverän beherrscht. Ein Schreiben, das sich der platten, vordergründigen, lauten Sprache verweigert. Ein Erzählen, dem Schweigen entgegengeschrieben.
Silvia Hess ist Literaturkritikerin und lebt in Solothurn.