Die metaphorische Physik
1925 kam der Naturwissenschaft die Sprache abhanden. Und mit ihr alle Objektivität. Ein Gespräch mit dem Prix-Goncourt-Gewinner Jérôme Ferrari über Werner Heisenberg, Metaphern und: die Bombe.
Herr Ferrari, Sie haben in die Mitte Ihres neusten Romans den Physiker Werner Heisenberg gestellt und orientieren sich sehr genau an dessen Lebensstationen: seine jungen Jahre und ersten Erfolge als Student, seine Arbeit am nationalsozialistischen Atomprojekt und seine späten Jahre in Reflexion des Verhältnisses Mensch und Technik. Sie führen Heisenbergs Autobiographie sowie Originaldokumente und Zeitgenossen als Quellen an. Was ist der spezifische Genuss am biographischen Schreiben?
Ich hatte nicht vor, eine Biographie zu schreiben. Ich wollte einen Roman schreiben, entschied mich aber früh dafür, dass jede Referenz an sein Leben auch wahr sein sollte. Ich habe also Heisenbergs Autobiographie «Der Teil und das Ganze» gelesen und stellte mir eine Figur vor, die sich direkt an Heisenberg wendet. Ich wollte die Biographie zum Roman machen, verstehen Sie? Und ich wollte die Physik zum wahrhaft literarischen Thema machen.
Empfanden Sie es als einfacher, den realen Tatsachen entlang zu schreiben, statt sie zu erfinden?
Nein, ganz im Gegenteil. Es war sehr aufreibend und sehr schwer. Denn wenn Sie über Tatsachen sprechen, was können Sie da auf der literarischen Ebene verrichten? Sie müssen sich etwas einfallen lassen, das diesen Text zu einem Roman macht. Es gibt viele Biographien über Heisenberg und ich wollte keine weitere schreiben. Das wäre reines Gift gewesen. Zum ersten Mal in meinem Leben, glaube ich, habe ich angefangen zu schreiben und dann alles gepackt, in den Müll geworfen und nochmals ganz von vorne begonnen. Es war also wirklich sehr schwer, aber sehr interessant.
Physik also. Für die meisten Menschen, mich selbst eingeschlossen, sind physikalische Zusammenhänge nur schwer -verständlich. Können Sie das titelgebende «Unschärfeprinzip» einmal kurz und einfach skizzieren?
Knapp formuliert lautet es: wir können nicht gleichzeitig die Position und die Geschwindigkeit eines Elementarteilchens messen. Je genauer wir das eine bestimmen, desto ungenauer fällt die Messung des anderen aus.
Bei uns Nichtphysikern löst diese Erklärung das übliche -vorauseilende Eingeständnis der eigenen Beschränktheit aus, für die Physiker um 1925 grenzte es an Ketzerei, ja an die -Apokalypse selbst. Albert Einstein weigerte sich bis zu seinem Tod, die Welt so hinzunehmen, wozu das Prinzip sie machte: einen Ort, an dem die Dinge keinen Grund haben. Die Materie hat ihre Materialität verloren – und das ist keine Metapher, oder?
(Denkt nach und schweigt)
War das zu weit vorgegriffen?
Nein, nein. Ich weiss, worauf Sie hinauswollen, und ich antworte Ihnen gerne, nur: es wird noch etwas komplizierter. Zwei Dinge sind zu beachten. Das erste betrifft die Physik selbst und die Art, wie Heisenberg physikalische Probleme betrachtete. Für ihn rühren alle Widersprüchlichkeiten der Quantentheorie von der Tatsache her, dass die menschliche Sprache nicht fähig ist, die Welt innerhalb eines Atoms genau wiederzugeben.
Wir sprechen also über das Atom, ehemals der Urbaustein der Welt, unteilbar und letztgültig, aufgebaut aus Protonen, -Neutronen und Elektroden, so viel weiss ich aus der Schulzeit noch zu aktivieren.
Genau. Und diese verhalten sich so, wie wir uns das gar nicht vorstellen und darum auch nicht mit unseren Worten ausdrücken können. Es ist unmöglich. Atome und Elementarteilchen sind sehr eigenartige Objekte. (lacht) Sie können sie nicht beschreiben. Aber das einzige, über das Sie zur Beschreibung verfügen, ist die menschliche Sprache. Sie benutzen also ein Mittel, das seinen Zweck nicht erfüllen kann. Wenn Sie darüber sprechen wollen, worüber Sie nicht sprechen können, müssen Sie auf Metaphern zurückgreifen.
Also auf das Rüstzeug der Dichter, nicht unbedingt der Naturwissenschafter.
Genau. Diese Quantenphysiker, so könnte man sagen, waren an die Grenzen der Sprache vorgedrungen. Und nicht alle kamen damit klar. Das Prinzip widerspricht allen logischen Gesetzen und nimmt der Kausalität, also dem Verhältnis von Ursache und Wirkung, jegliche Grundlage. Stellen Sie sich vor, etwas ist etwas, liegt klar und deutlich vor Ihnen, und gleichzeitig ist es aber auch etwas ganz anderes. Das kann der Verstand kaum fassen, aber die Sprache vermag es – es gelingt ihr jedoch nur in Metaphern.
Im Roman heisst es, Geschwindigkeit und Position seien reine Virtualitäten, die erst im Moment der Messung, also erst durch den menschlichen Blick zu objektiver Wirklichkeit gelangten, niemals jedoch zugleich…
Das Ungeheuerliche an Heisenbergs Entdeckung war, dass Messungen im Quantenbereich nicht die Objektivität für sich beanspruchen können, wie geglaubt; dass eben diese naturwissenschaftlichen Kategorien Einheiten waren und sind, die auf den menschlichen Verstand zugeschnitten sind, weil sie von Menschen entwickelt wurden; und dass der Mensch die Natur nie einfach neutral beobachten kann, weil er Teil davon ist. Heisenberg sagte, «dass zum erstenmal im Lauf der Geschichte der Mensch auf dieser Erde nur noch sich selbst gegenübersteht». Geschwindigkeit und Position sind in diesem Sinne auch Metaphern. Und hier sehe ich einen gewaltigen Brückenschlag zwischen der Physik und der Dichtung. (Denkt nach und schweigt) Die Physik also ist das erste. Das zweite ist das Leben Heisenbergs selbst – auch das ist sehr schwer nachzuvollziehen.
Sie zeichnen es anhand einer Reihe von Metaphern nach, die sich aus seiner physikalischen Entdeckung speist, die einzelnen Kapitel lauten «Position», «Geschwindigkeit», «Energie» und «Zeit». Für den Nationalsozialismus zum Beispiel verwenden Sie das Bild einer quasiphysikalischen Kraft. Es heisst da: «Was für eine seltsame Bewegung, die Sie da mit einer derart rasanten Geschwindigkeit, dass kein Instrument es zu messen vermag, ins Herz dessen geworfen hat, was Sie hatten fliehen wollen und was Sie anwidert, dort, wo das unterjochte Wissen keinen anderen Wert mehr besitzt als denjenigen der Macht, die es zu generieren verspricht.» Sind die Bilder auch für Sie ein Mittel, etwas eigentlich Unverständliches, nämlich Heisenbergs Leben, auszudrücken?
Ich habe die Biographie Heisenbergs studiert, habe die Fakten angestarrt auf der Suche nach der Person Heisenberg, aber es ging mir wie ihm: alles löste sich vor meinen Augen auf. Es gibt zwei Lager, was seine Forschung während des Zweiten Weltkrieges betrifft. Die einen glauben, er habe ohne Schwierigkeiten für die Nazis gearbeitet, er habe, ohne sich selbst zu hinterfragen, versucht, die Atombombe für sie zu bauen. Andere glauben, er habe dies eben gerade nicht beabsichtigt und sich für die Arbeit am Projekt entschieden, um es zu sabotieren. Zwischen diesen beiden Ansätzen gibt es sehr viel Raum für weitere Interpretationen – und mir gefällt das. Ich will mich nicht entscheiden, welcher der Ansätze der wahre ist, weil ich nicht glaube, dass das überhaupt möglich ist. Es ist unmöglich. Und so verschwimmt alles ein wenig.
So wie nach dem Heisenberg’schen Unschärfeprinzip!
Ja, als wäre er selbst sein Prinzip. Ein deutsch-französischer Physiker hat mir mal erzählt, dass es mit den Physikern, die an der Entwicklung der Quantentheorie arbeiteten, eine seltsame Bewandtnis habe: Sie haben etwas entdeckt, das sich in ihrem Leben wiederfindet. Erwin Schrödinger zum Beispiel erlangte mit seinem Gedankenexperiment, bei dem die Katze gleichzeitig tot und lebendig ist, Berühmtheit. Auch er selbst war viele Dinge zugleich, vor allem liebte er viele Frauen zugleich. (lacht) Und ähnlich ist es auch mit dem Prinzip: Heisenbergs Leben war äusserst unscharf.
In Ihrem Buch spiegeln Sie Heisenbergs Lebensstationen an denen eines Erzählers, der sich immer wieder mit Heisenberg vergleicht, ihn direkt anspricht und sich geradezu mit ihm zu messen scheint – was das Ganze nochmals verkompliziert. Als Student fällt der Erzähler durch die Philosophieprüfung, weil er das Ausmass der Konsequenzen des Prinzips – das Urteil der Auflösung durch die Unzulänglichkeit der Sprache – nicht begreiflich darlegen kann. Die Szene spielt 1989 und der junge, von sich selbst enttäuschte Erzähler vergleicht sich mit dem Studenten Heisenberg, der gerade um die ganze Welt reist, -eingeladen wird, um mit seinem Freund und Lehrer Niels Bohr, Albert Einstein und Marie Curie seine Entdeckung zu diskutieren. 1995 verbringt der Erzähler bei seinem Vater auf Korsika, trauert um seine Mutter und zieht Parallelen zur Hoffnungs-losigkeit Heisenbergs, als dieser realisiert, dass Deutschland unbestreitbar unter nationalsozialistischer Herrschaft steht. 2009 flieht der Erzähler, mittlerweile Geschäftsmann, das von der Finanzkrise eingeholte Abu Dhabi und streitet beinahe mit dem Heisenberg der 1950er Jahre, in denen dieser als -technikkritischer Redner auftritt. Diese Etappensetzungen -lassen einige Fragen offen, wie zum Beispiel: Glauben Sie -wirklich, dass die Finanzkrise das heutige Äquivalent der Entwicklung der Atombombe ist?
Das Ding ist, dass ich die Geschichte der Physik des 20. Jahrhunderts betrachtet habe wie eine Tragödie. Diese Physik wurde von wirklich bildschönen Geistern betrieben, von schönen Menschen, die nur Schönheit und nur Wahrheit liebten. Sie kümmerten sich nicht um technische Fragen, nur um Wissen. Und diese Menschen erschufen, ohne das zu wollen, die schlimmstmögliche Waffe: die Atombombe. Als Otto Hahn die Kernspaltung des Uraniums entdeckte, konnte er nicht -erahnen, was damit möglich sein würde, und als er erfuhr, was gerade damit realisiert wurde, traf ihn der Schock – er fiel in Ohnmacht. Er hatte die Bombe nie auch nur in Betracht gezogen, aber er hatte sie ermöglicht. Und so sind diese Physiker alle in einer seltsamen Art und Weise schuldig. «Die Sünde erfahren», nannte J. Robert Oppenheimer, der erfolgreiche Leiter des amerikanischen Atomprojekts, diesen Zustand.
Das war jetzt noch keine Antwort auf meine Frage, aber -bleiben wir kurz dabei: In die antike Tragödie Griechenlands übersetzt, sprechen Sie von Schicksal – wie Ödipus, der seinem Fatum auszuweichen versucht und gerade dadurch in sein Unglück gerät?
In gewisser Hinsicht, ja. Was mich an den Texten dieser Physiker am meisten überrascht hat, war, wie mystisch sie sich alle lesen.
Inwiefern mystisch?
Nun, in der Schule wählen Sie zwischen Mathematik und Natur-wissenschaft oder Literatur und Kunst. Deshalb glauben Sie, dass das zwei ganz verschiedene Dinge seien: auf der einen Seite die Logik, das Berechnen und auf der anderen das Gestalten, die Vorstellungskraft und die Gefühle. Aber das ist völlig falsch. Da stecken jede Menge schöpferische, phantasievolle und emotionale Momente im Prozess der naturwissenschaftlichen Entdeckung. Wenn diese Physiker von den Dingen sprechen, die sie entdeckt haben, klingt das wie bei einer Offenbarung.
In Ihrem Roman heisst es mehrmals, Heisenberg habe «Gott über die Schulter geschaut».
Ja, sehr mystisch, nicht? Der Ausdruck stammt übrigens von Heisenberg selbst. Als er alt war, sprach er zu seiner Frau: «Ich bin glücklich, dass ich einmal Gott über die Schultern schauen durfte.» Das ist doch wunderschön. Entdeckungen sind keine Folge eines logischen Prozesses, mehr wie eine Vision, eine Erleuchtung. Vielleicht kommt zuerst die Erleuchtung, dann erst das Rechnen, um zu prüfen, ob sie richtig war. Niels Bohr hat so gearbeitet – und Heisenberg war überrascht, als er realisierte, dass Bohr jeweils nicht vor, sondern nach einem Einfall rechnete. Ich finde das sehr poetisch.
Und wo passt da nun die Finanzkrise hinein?
Was die Physiker des letzten Jahrhunderts einsehen mussten, war, dass die Technik von selbst wächst – ohne das Zutun der Menschen und auch ohne ihren Willen. Es steht nicht im Vermögen der Menschen, zu entscheiden, was möglich sein wird, und alles, so glaube ich zumindest, was möglich ist, wird auch ermöglicht werden. Es spielt keine Rolle, ob wir das wollen oder nicht. Und das ist der Punkt, an dem die Wirtschaft ins Spiel kommt. Sie funktioniert meines Erachtens derart unabhängig vom Willen des Menschen, dass ich sie ebenfalls für eine Tragödie halte. (lacht) Ich glaube nicht, dass der menschliche Wille -irgendetwas an ihr ändern kann. Und das bedeutet vielleicht, dass die Politik nutzlos geworden ist.
Beim Versuch, ein heutiges Äquivalent für die Bedeutung der Atombombe im letzten Jahrhundert zu finden, bin ich eher bei der Biopolitik, also der technischen Manipulation des menschlichen Körpers gelandet. Ist das abwegig?
Keinesfalls! Und: die Technikphilosophen der 1950er Jahre, dazu zählten auch Heisenberg mit dem Vortrag «Das Naturbild der heutigen Physik» oder Martin Heidegger, der zeitgleich -seinen berühmten Vortrag «Die Frage der Technik» hielt, haben einige dieser aktuellen Entwicklungen, etwa das Einfrieren von Eiern etc., vorausgesehen. Heidegger meinte, dass die Menschen sich eines Tages mit ihren technischen Mitteln selbst produzieren könnten – und er hatte recht.
Wir finden in Ihrem Roman also drei Ebenen: die Physik, die in ungekannte Sphären vordringt, die Sprache, die an ersterer scheitert, und die Politik, die heute vielleicht, wie Sie sagen, nutzlos geworden ist. Heisenberg ist Physiker, klar, und zwangsläufig Mystiker in seinen Texten, in denen er auf -Metaphern ausweichen muss. Aber ist er auch Politiker?
Nein, Politiker ist er ganz und gar nicht. Heisenberg schrieb zwar in einem Text von 1942, Politik sei schon immer ein Verbrechen gewesen, aber er verstand ja die Politik kaum… Nein, er verstand sie überhaupt nicht! Ich habe das Gefühl, das war das Problem vieler deutscher Wissenschafter: dass sie nicht sahen, was im Deutschland von 1933 vor sich ging. Sie dachten, Hitler sei nicht gefährlich, weil sie ihn schlicht für dumm hielten. Und sie lagen damit dramatisch daneben. Als sie das einsahen, war es aber schon zu spät. Kurz: sie waren naiv. (Denkt ein letztes Mal nach und schweigt) Wahrscheinlich ist es einfach falsch, zu so einem Zeitpunkt so naiv zu sein.
Das vorliegende Gespräch mit Jérôme Ferrari fand im April 2015 anlässlich des Literaturfestivals «Eventi Letterari» auf dem Monte Verità bei Ascona statt. Wir danken dem Presseverantwortlichen Gunnar Gilgen für die freundliche Unterstützung und die kompetente Vermittlung.