Kleine Geschichte des Kantons Tessin (Dialog zu drei Stimmen)
Treffen sich zwei Tessiner und ein Zürcher im Grotto – was bisher geschah.
Das Gebiet (Gesamtansicht)
«Also, bellissimo ist es da. So schön.
Das ist die Sonnenstube. Il paradiso.»
«Sie übertreiben. Gott bewahre, schön ist es schon,
aber nichts weiter als ein winziges Fleckchen zwischen
Ebene und Gebirge. Ein typischer Transitort:
zu nördlich für den Süden, zu südlich für den Norden.
Ein paar hundert Kilometer, der Ceneri in der Mitte.
Denk an den Verkehr, das passendste Symbol
für so ein Durchgangsland, ständig Stau.
Wenn der im Sommer zum Gotthard vorrückt,
hilft nicht mal mehr die Kerze für die Madonna.»
«Und die hilft auch nicht gegen Leut’ wie Sie.
Scherz beiseite, ha, aber unsere Gegend
ist einzigartig in der Welt. Wir müssen sie verteidigen,
uns wehren anstatt beschweren. Die Politik schläft.
Ein jeder kommt und tut, was er will.
Das ist das Problem. Aber doch nicht
die Gegend, die lass schön sein.»
Von der Urgeschichte bis in die Spätantike
«Jedes Jahr vengo con il Zug.
Dann der Bus und dann zu Fuss.»
«Das mit dem Durchgangsland ist doch nichts
Schlechtes. Wir müssen den Römern danken.
Ich beschwer mich nicht nur so: das Tessin
wird hochgepriesen von den Stubenhockern.
Oder von den Touristen, besten Dank! Aber im Ernst.
Für einen, der die Welt gesehen hat,
ist das Tessin unbedeutend. Also nichts
Besonderes, ums diesmal zu übertreiben. Seen
gibt es auch woanders, nicht mal weit weg.
Und die Sonne ist im Süden wärmer und schöner.»
«Sind Sie denn Tessiner? Nicht mal die Grenzgänger
sind falschere Zungen. Sie spielen sich da auf
als Studierter, lassen Sie bloss die Römer in Rom
und die Barbaren im Norden. Tessin gibt es nur eins,
das der Tessiner. Die Geschichte?
Die schert mich nicht.»
Machtverhältnisse und politische Verwaltungsorganisation im Mittelalter und in der Neuzeit
«So oft wie wir kommen, sind wir auch
ein bisschen Tessiner: deutsche Ticinesi!
Aber meine Frau ist Deutsche aus Deutschland,
die ist zu wenig Tessinerin, die wollt ihr nicht.»
«Jedenfalls bin ich Schweizer und Tessiner
und deshalb ein Sohn Italiens. Oder sind wir aus
dem Nichts geboren? Lesen Sie ein bisschen Geschichte,
dann wüssten Sie besser, wie sehr unser Blut
italienisch und eidgenössisch zugleich ist.»
«Jetzt phantasieren Sie. Wo wir schon dabei sind,
erzählen Sie uns von Vögten und Vogteien. Das sind konkrete
Probleme, aber vorher spielen Sie ruhig den Philosophen.
Bravo.»
Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur im Mittelalter und in der Neuzeit
«Bosco Gurin! Und Ascona, ah ah ah.»
«Gut, reden wir über Vogteien. Vielleicht kommt daher
die Engstirnigkeit des Durchschnittstessiners.
Dessen Spezies Sie so trefflich vertreten.
Wissen Sie, dass ohne die Geschichtsbücher
die Kirchen, Kirchtürme und christlichen Wurzeln
verschwinden, an denen euch so viel liegt, zumindest
seit ihr euch so vor dem Islam fürchtet?»
«Das ist nicht witzig, wir sind fast im Krieg.
Diese Leute laden sich selbst ein und respektieren
nicht mal unsere Traditionen. Die Erziehung. Und der Staat
schläft, ist korrupt, scheisst drauf.»
Staat und Politik im 19. und 20. Jahrhundert
«Die Tradition ist wichtig. Aber da
ist alles Tradition. Das seh’ ich. Im Tessin
seid ihr tüchtig. Wie der Wein da, ehi:
santé à vous tous.»
«Dann duzen wir uns doch, und prost,
und sprechen wir über schöne Traditionen und Symbole.
Das Jassen, von dem ich keine einzige Regel weiss;
das legendäre Schwingen, das nur bis zu den Alpen
schweizerisch ist, und weiter im Süden unbekannt.
Die Mediation, ha, da haben wir sie,
die echte Ursuppe! Den ersten Stein!
Nicht den Stein von dem, der ohne Sünde ist,
ich bitt’ dich, auch wenn der Tessiner
durch und durch sauber ist, wie ein Heiliger.»
«Du weisst nicht ganz, wovon du sprichst,
aber du bist nett. Also prost. Ab und zu
darf man lachen, sofern man
die wahren Werte hochhält. Wie Ordnung,
Sauberkeit, Anstand. Alle beneiden uns darum,
und zu Recht. Die Hauptsache ist, sie bleiben
zu Hause.»
Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert
«Zu Hause zu bleiben ist ein Problem,
wenn es das Zuhause nicht mehr gibt.
Oder nie gegeben hat.»
«Aber unser Gedächtnis ist kurz. Wie viele Tessiner
sind zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert vor Armut
geflohen, um ihr Glück zu suchen? Australien,
Amerika … Vielleicht hast du recht: die Geschichte
bringt nichts. Der Mensch ist zu schwach,
um Nutzen daraus zu ziehen. Unsere einzelnen,
launischen Geschichten überdecken
und erdrücken sie.»
«Ich hab ja auch ‹Il fondo del sacco› gelesen,
ohne gleich zu heulen. Wir sind respektvoll
emigriert. Schau, wer heute kommt, auch nur
zum Arbeiten: Blutsauger.»
Gebiet (Epilog)
«Ich muss gehen. Danke.»
«Ich bleibe, ciao. Auch weil
ich gestern da war und morgen da sein werde.
Ich könnte woanders sein, das bliebe sich gleich,
aber ich bin da.»
«Dank dem Herrgott, dass du da bist.
Ein wenig weiter im Norden erging’s dir schlecht,
im Süden sehr schlecht. Ich geniess’ es. Meine Frau
ist unbesorgt und in der Bar trifft man noch
den Zürcher Touristen, der einen zum Trinken
einlädt.»
Aus dem Italienischen übersetzt von Julia Dengg.
Yari Bernasconi (Text)
ist Dichter und Literaturkritiker. Zuletzt von ihm erschienen ist «Nuovi giorni di polvere» (Casagrande, 2015). Er lebt in Bern.
Julia Dengg (Übersetzung)
ist preisgekrönte Übersetzerin und machte sich besonders um die Dichtungen Giorgio Orellis verdient. Sie lebt in Wien.