Marta und Arthur
«Marta und Arthur» ist ein Roman über zwei Menschen, die nicht ohneeinander können – aber miteinander noch viel weniger. Hier lesen Sie den Anfang der Geschichte vorab.
Sie kommt kaum voran in diesem Wind, auf dem weichen Sand, und die Nässe ist längst durch das Stiefelleder gedrungen. Ausser Marta ist kein Mensch unten am Strand. Über den Boden verteilt liegen Hunderte von verlassenen Panzern, abgebrochenen, dünnen Beinen, angespülten Scheren; ein Schlachtfeld toter Strandkrabben. Der Wind schlägt Marta ins Gesicht, die Luft beisst kalt. Die Wellen prallen mit Wucht gegen die Felsbuhnen und brechen. Der schwere, grauschwarze Himmel drückt den Horizont ins Wasser. Auftakt eines tobenden Sturms.
Etwa auf halber Höhe zwischen Deich und Meer hat jemand einen Kreis aus Steinen in den Sand gelegt. Er ist fast voll-ständig zugeweht. Hier an dieser Stelle muss das damals gewesen sein, denkt Marta und bleibt stehen. Sie holt eine gefaltete Plastiktüte aus der Tasche ihres Mantels hervor. Dann geht sie in die Hocke und beginnt, mit ihren Händen Sand in die Tüte zu füllen. Der Sand ist feucht und dicht. Marta hantiert stoisch, schaufelt und schaufelt, während der Wind an ihr zerrt.
Als die Tüte bis zum Rand gefüllt ist, klopft sie den Sand mit der flachen Hand oben fest. Das Geräusch wird vom Sturm verschluckt; er ist gefrässig in seinem Rausch, selbst das Geschrei der Möwen klingt bloss noch wie ein Echo.
Marta zieht einen weiteren Plastiksack aus ihrem Mantel, verliert dabei kurz das Gleichgewicht und fällt mit ihrem Hintern in den Sand. Sie flucht nicht. Umständlich begibt sie sich in die Hocke zurück und füllt auch die zweite Tüte.
Aus Versehen schippt sie eine Qualle hinein. Erst nach einigen Schaufelhüben kommt Marta das verschüttete Tier in den Sinn. Sie holt es heraus – Gallertmasse, sandverklebt und von violetten Kanälen durchzogen –, wirft es beiseite und schaufelt weiter, bis nichts mehr hineinpasst. Dann steht sie auf, hebt die zwei Sandtüten an, stöhnt und läuft langsam los.
Marta Zimmermann ist neunundfünfzig Jahre alt und eine kleine Frau mit recht langen Armen. Die schweren Tüten schleifen beinahe auf dem Boden, während sie gegen den Sturm anläuft. Um sich vor Flugsand zu schützen, kneift sie die Augen zusammen. Einmal stolpert sie deswegen, fällt aber nicht hin. Einmal öffnet sie den Mund, und die Kälte pfeift durch ihre Zähne. Sie kommt an den Umkleidekabinen vorbei, schleppt die Säcke über den Dünenpfad und auf der anderen Seite den steilen Deich hinab.
Der Wind weht etwas schwächer, als sie die Strasse erreicht. Die Laternen sind eingeschaltet. Sie werden wohl den ganzen Tag über an bleiben, von alleine wird es heute nicht hell. Die Tütengriffe schneiden in Martas Hände ein. An den Fingern klebt Sand, und sie kribbeln. Schweiss rinnt brustabwärts ihren Bauch entlang, unter dem dicken Mantel und der Bluse.
Marta setzt sich kleine Etappenziele, an denen sie anhält, um die Tüten für einen Moment abzustellen: Bis zu dem Hydranten. Bis zu der Mülltonne. Nur noch bis zu dem Briefkasten.
Endlich erreicht sie ihre Wohnsiedlung, dann ihr Haus. Ein dreistöckiges Mietshaus mit kleinem Vorgarten. An der Eingangstür stellt sie die Tüten ab, stützt sie mit ihren Beinen und sucht nach dem Schlüssel. Während sie ihre Manteltaschen durchwühlt, starrt sie auf die in die Tür eingelassene Scheibe aus Noppenglas, die aussieht wie eine Fläche angetauter und wieder eingefrorener Eiswürfel.
Im Treppenhaus wird Marta auf einmal schwarz vor Augen.
Reflexhaft greift sie mit der linken Hand ans Geländer und lässt dabei eine der Tüten los. Die Tüte fällt um; es wären nur noch fünf Stufen bis zur Wohnung gewesen. Marta lehnt sich an die Wand, drückt ihren Kopf dagegen. Den Griff der anderen Tüte hält sie verkrampft fest. Als der Schwindel nachlässt, öffnet sie die Augen und sieht, dass die umgefallene Tüte so gut wie leer ist. Erschöpft sinkt Marta auf eine Stufe nieder, die gerade zu zittern anfängt, wie sie glaubt, aber es ist Marta, die zittert, nicht die Stufe. Im oberen Stockwerk schliesst jemand seine Wohnungstür von innen auf. Marta hält den Atem an.
Zum Glück bleibt es still, niemand kommt.
Nach ein paar Minuten gelingt es Marta, langsam wieder aufzustehen. Sie trägt die volle Tüte hoch, öffnet die Tür und hebt die Tüte über die Schwelle. Dann zieht sie ihre Stiefel aus und tritt in den dunklen Flur ihrer Wohnung. Sie nimmt Eimer, Kehrbesen und Schaufel und kehrt damit ins Treppenhaus zurück, um den Sand zusammenzufegen. Sie schüttet ihn in den Eimer, trägt ihn in die Wohnung. Zum Schluss holt sie noch die liegen gebliebene, leere Plastiktüte.
Eigentlich müsste ich jetzt die Treppenstufen sauberwischen, gründlich, damit sich keiner der Nachbarn beschweren kann, denkt Marta. Stattdessen aber schliesst sie die Tür von innen zu und zieht, beinahe eine Erleichterung spürend, die regenfeuchte Strumpfhose von ihren Beinen.
Es ist kurz vor acht, und heute Nacht ist Martas Mann gestorben.
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Streng genommen war Arthur gar nicht ihr Mann. Denn er wollte sie «auf keinen Fall» heiraten. Marta nennt ihn trotzdem «meinen Mann»; schliesslich haben sie ein gemeinsames Kind und teilen sich diese Wohnung seit über vierzig Jahren. Ob Arthur sie im Gegenzug als «meine Frau» bezeichnete, sollte er je mit anderen über sie gesprochen haben, weiss sie nicht. Sie hat sich das aber oft gefragt. Bei jedem Blick auf ihr Klingelschild, auf dem zwei Namen stehen, statt nur einem, wie es sich gehört, hat sie sich das gefragt. Und wahrscheinlich wird sie sich das auch in Zukunft weiter fragen.
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In der vorangegangenen Nacht war Marta vom Geläut der Kirchenglocke geweckt worden. Sie kniete im Bett, der Ober-körper aufrecht. Ihr Kissen hielt sie vor dem Bauch umklammert. Es war stockfinster. Die Kirchenglocke schlug drei Uhr. Obwohl deren Läuten Marta seit Jahrzehnten begleitete und zu den Hintergrundgeräuschen ihres Lebens gehörte, die sie kaum wahrnahm, schon gar nicht im Schlaf, war es diesmal ein markerschütterndes Dröhnen, das alles zum Vibrieren brachte. Erschien es Marta deshalb so laut, weil von Arthur plötzlich diese Ruhe ausging? Das nächtliche Röcheln seiner kranken Lunge klang sonst, als würde jemand mit harten Besenborsten über den Asphalt fegen. Aber nun war von Arthur nichts mehr zu hören. Nachdem die Glockenschläge verebbt waren, wurde es totenstill um Marta herum, die Dunkelheit wirkte noch dunkler.
Schliesslich begann Marta, doch ein Geräusch wahrzunehmen, ganz allmählich drang es zu ihr durch: das ihres eigenen Atems. Er raste. Marta hat eine kleine, zarte Nase. Mit jedem Einatmen wurde die Kuhle in ihren Nasenflügeln ein wenig tiefer. Mit jedem Ausatmen hauchte sie eine neue Nebelwolke in die kalte Luft. Marta konnte den Nebel durch die Finsternis schweben sehen. Wie Geister. Vielleicht mischte sich in diesem Moment Arthurs Seele darunter, löste sich darin auf?
Martas Hände hielten verkrampft, fast spastisch und gleichzeitig zitternd das Kissen fest. Es kostete sie einige Anstrengung, den Griff zu lockern. Sie legte das Kissen an seinen Platz am Kopfende des Bettes zurück. Noch immer kniete sie. Von ihrer Bettseite aus schaute sie jetzt zu Arthur hinüber und ahnte seine Konturen: die vorne spitz in die Luft ragende Nase, den Oberlippenbart, den dünnen Mund, das kantige Kinn. Auf Schulterhöhe: der Ansatz der Daunendecke. Bewegte sie sich wirklich nicht mehr? Kein Heben, kein Senken, nicht einmal ein paar Millimeter?
Sechzehn Jahre Altersunterschied lagen zwischen Marta und Arthur. Es war immer die wahrscheinlichere Variante gewesen, dass er vor ihr starb, schon seiner kranken Lunge wegen. Aber – womöglich spielte Arthur nur tot, womöglich tat er gerade nur so. Als ob.
Marta schob ihre Hand zu Arthur hinüber, fasste unter seine Decke und stupste ihn in die Seite: Er rührte sich nicht. Sie machte eine Faust, stiess derber zu, spürte die Rippen dieses hageren Mannes: keine Reaktion. Dann boxte sie ihn mit Wucht: Zwar wackelte sein Oberkörper kurz, das spürte Marta, aber es war eine marionettenartige Bewegung ohne Nachhall. Marta riss nun ihre Hand unter der Decke hervor und schlug Arthur ins Gesicht. Sie atmete heftig. Eine ganze Schar von Schwadengeistern stieg vor ihr auf. Marta ging in Deckung, legte sich rasch hin, zog ihre Decke hoch bis zum Kinn. Und mit dem Hinlegen, mit dem Hineinfliessen in ihre gewohnte Schlafposition, legte sich nach und nach auch ihre Aufregung. Ihr Herz pochte langsamer, die Schar wurde kleiner.
Der Winter frass sich durch die Aussenwand in den Raum hinein. An Martas Beinen, unter der Decke, war es warm, aber ringsum zugig, feucht und kalt. Im Schlafzimmer heizten sie nie, dabei hätte Marta es gerne ein bisschen wärmer gehabt. «Vollkommen unnötig», hatte Arthur gesagt – und Marta hatte sich vorgestellt, wie gemütlich es wäre, über einer Textilreinigung zu wohnen, deren Dampf von unten durch den Boden zu ihr in die Wohnung stieg, der das Schlafzimmer wärmte und zugleich den Geruch von heisser, sauberer Wäsche verströmte. Ein Geruch, den Marta sehr mochte, fast so sehr wie den des Meeres. Sie schloss die Augen. Die Matratze unter ihr teilte sich. Marta versank in einem dämmrigen Zeitloch.
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Als sie erwachte, war für einen kurzen Moment alles wie immer. Bis sich die Stille erneut vordrängte.
«Arthur», flüsterte Marta.
Er antwortete nicht.
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Marta überlegte: Wenn Arthur wirklich tot war, musste sie Michael anrufen, ihren Sohn. Das hier war bestimmt ein Grund, aus dem sie sich bei ihm melden durfte. «Im Notfall» durfte sie ihn anrufen, das hatte er ihr erlaubt. Aber wenn er jetzt käme, würde er ihr doch sofort ein neues Leben mitbringen, ihr Leben als Witwe. Und dafür war sie noch nicht bereit.
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Von einer ungewohnten, beinahe stechenden Klarheit erfüllt, wusste Marta plötzlich genau, was zu tun war. Sie klappte ihre Decke zurück, setzte sich auf die Bettkante und fuhr in ihre Pantoffeln, die sie zunächst mit den Zehen ertasten und zu sich heranholen musste. Die Nachttischlampe schaltete sie nicht ein. Es blieb dunkel. Ihre Kleidung von gestern hing über dem Stuhl. Marta zog sich rasch an und schlich aus dem Schlafzimmer. Ganz sachte schloss sie die Tür. Sie befürchtete weiterhin, Arthur könnte wieder erwachen, könnte sich noch einmal aufbäumen, sie doch noch einmal anherrschen; bei ihm wusste man nie. Marta zog ihre Stiefel an und den Wintermantel und steckte zwei grosse Plastiktüten ein. Dann lief sie hinunter zum Strand, um so viel Sand zu holen, wie sie tragen konnte. Der Wind blähte die Morgendämmerung auf.
…
Der Roman «Marta und Arthur» erscheint am 23. August 2019 im Arche Literatur Verlag.