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Nicht Nischnje Selischtsche

 

Meine Eltern waren das, was man einmal Spontis genannt hat. Besonders mein Vater war für ausserparlamentarische Meinungsäusserungen aller Art immer zu haben: Er demonstrierte am 1. Mai, in Kaiseraugst und (als Lehrer) für kleinere Klassen, kettete sich für Greenpeace an Autobahnbaustellen, wo wahrscheinlich irgendwelche Tierarten bedroht waren, und wollte mit einer Partei namens Mistral frischen Wind in den Dorfgemeinderat bringen. Leider ohne Erfolg – zu links für dieses Dorf an der Grenze zwischen Agglo und Agro. Als Linke machte man auch in verschiedenen internationalen Kooperativprojekten mit, zum Beispiel bei einer Organisation namens Longo Maï, die landwirtschaftliche Kooperativen in der Schweiz, Südfrankreich, aber auch im transkarpatischen Uschgorod betrieb (und bis heute betreibt). Als die Sowjetunion nicht mehr da war und in der Ukraine die Hyperinflation grassierte, stellte Longo Maï ein Austauschprogramm mit ukrainischen Gastfamilien auf die Beine, um Devisen nicht nur ins Land, sondern auch unter die Landbevölkerung zu bringen. Genau das Richtige für die Baders, und so sollten wir also die Sommerferien 1992 in einem Karpatenkaff verbringen, dessen Namen wir nicht aussprechen konnten: Nischnje Selischtsche.

Im Nachtzug Zürich–Budapest lag ich auf der mittleren Liege, hielt den Kopf ganz nah ans heruntergezogene Fenster, so dass der Fahrtwind meine Haare zerzauste, wie es sich für eine Expedition in die Wildnis gehörte, und schaute voller freudiger Erwartung hinaus, obwohl es längst dunkel war und das Panorama vor allem aus vorbeiflutschenden Oberleitungsmasten bestand. Wädenswil ist meine letzte Erinnerung, dann am nächsten Morgen St. Pölten, Wien Westbahnhof (umsteigen), Bruck a.d. Leitha und auf den Mittag zugehend die wunderbaren ungarischen Ortsnamen: Hegyeshalom, Mosonmagyaróvár, Győr, Tatabánya. Am Bahnhof Budapest Keleti pu. gab es Forint, zwei verschiedene Lautsprecher-Jingles, von denen der seltener verwendete, wahrscheinlich reserviert für besonders wichtige Durchsagen, fast 20 Sekunden dauerte, und eine extrem lange Rolltreppe zur Metro, meiner ersten Metro, die mit offenen Fenstern unter der Donau durchfuhr. Auf der autofreien Margareteninsel mieteten wir ein Bringóhintó, eine Art Tretvierrad mit zwei Bänken und Sonnendach, kurvten durch die ausgedehnten Parkanlagen und bestellten irgendwo eine Fischsuppe, von der wir nur die weissfleischigen Filetstücke essen konnten, und auch die nur mit Mühe, so scharf war die Brühe. Dann ging’s zurück zum Keleti pu., um 21.50 fuhr der Zug Richtung Ukraine.

Unser Schlafwagenabteil lag direkt neben dem Betreuer und seinem Samowar, er setzte mir seine wichtige Mütze mit den breiten Streifen auf und schenkte mir ein ausgedientes, goldglänzendes Sowjetabzeichen. Von den Erwachsenen wollte er Geld für erfundene Dienstleistungen, und so nannten wir ihn «Kolleg’ Essig». Essig weckte uns um 3.50 Uhr: Tschop, Grenzbahnhof. Aber was heisst Bahnhof, der Zug stand irgendwo in der Nähe der Station, jenseits des Perrons, und wir Kinder schafften es kaum, vom Wagen zu klettern. Mit Maschinen­gewehren bewaffnete Eskorte zum Zollgebäude, überall grelles Neonlicht, alles in Ordnung mit den Visa. Nach einer guten Stunde in der vollen Wartehalle samt Expedition durch die Seenlandschaften der übelsten Bahnhofstoilette, die ich bis ­dahin erlebt hatte – 28 Jahre später ist es immer noch die Nummer zwei –, stiegen wir in einen Regionalzug nach Uschgorod, Hauptstadt Transkarpatiens. Die Fensterscheibe unseres Abteils hatte zwei grosse Sprünge, die mit Holzleisten vernagelt (!) und so stabilisiert worden waren; wie das genau funktionierte, weiss ich bis heute nicht. In Uschgorod nahmen wir ein Taxi: Sechs Dollar verlangte der Fahrer, nachdem wir ihm die Adresse von Longo Maï gezeigt hatten, das klang in Ordnung. Nach ­wenigen hundert Metern waren wir am Ziel.

Die Leute von Longo Maï Uschgorod erklärten meinen Sponti-Eltern (und diese uns), dass das nun leider doch nicht klappe mit der Familie in Nischnje Selischtsche. Eine Ersatzgastfamilie sei aber bereits organisiert. So kamen wir zur Familie Kopa, Ulitsa Gagarina 14, im Dorf Ilnitsa. Dort gab es einen grossen Garten an einem Bach, mit Hundewelpen, einem orangen Lada in der Einfahrt und einem Plumpsklo, wo wir uns den Hintern mit ausrangierten Englischbüchern putzten, die Mutter Elisaveta, Lehrerin für Englisch und Russisch, aus der Schule mitbrachte. Drinnen liefen die Olympischen Spiele, und Vater Sascha erklärte uns, wer von den GUS-Athlet(inn)en aus der Ukraine stammte und anzufeuern war. Den Stabhochspringer Sergej Bubka kannte ich vom Leichtathletikmeeting in Zürich. In Barcelona schaffte er keinen gültigen Versuch.

Beim Lebensmittelladen musste man sich morgens in der Dämmerung in die Schlange stellen, um Milch oder Brot zu bekommen, im Warenhaus hielt das Verkaufspersonal, das den fälligen Betrag in beeindruckender Geschwindigkeit mit dem Abakus errechnete, unsere grossen Noten skeptisch unters Licht – vielleicht nicht verwunderlich bei einer Währung, die Kupon hiess. Auf dem zentralen Platz stand eine geköpfte Lenin-Statue, das KIHO daneben verschaffte mir nach (Tschop) mein zweites Erfolgserlebnis im Kyrillischlesen.

Wir hatten und haben wahrscheinlich keine Ahnung, welche Hebel diese Familie in Bewegung setzen musste, um uns «adäquat» beherbergen und ein «anständiges» Programm bieten zu können, beispielsweise damit Sascha den neunplätzigen Wolga seines Arbeitgebers ausleihen durfte, mit dem wir zum Zelten am Lake Senever (so sagte Elisaveta) bzw. Synevyr (so sagt das Internet) im heutigen Karpaten-Nationalpark fuhren. Etwa stündlich mussten wir anhalten, damit der Motor des Riesenschiffes sich wieder herunterkühlen konnte. An diesem See fing mein Bruder seinen ersten Fisch, und Tolja, ein Freund der Kopas, würzte seine Pfefferschoten mit weiterem Pfeffer, weil sie ihm nicht scharf genug waren. Es war sehr schön. Jahre später entdeckte ich auf Google Maps, dass wir auf dem Weg nur sieben Kilometer an Nischnje Selischtsche vorbeigefahren waren. Fast wär’s doch noch was geworden.


Die Kolumne «Hinter Nischnje Selischtsche» unseres langjährigen Autors Urs Mannhart finden Sie in Ausgabe 38 (Oktober 2019) oder direkt hier.

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