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Sendbrief an junge Kolleginnen und Kollegen

Wenn du die Kinder ermahnst, so meinst du, dein Amt sei erfüllet.
Weisst du, was sie dadurch lernen? – Ermahnen, mein Freund!

Sendbrief an junge Kolleginnen und Kollegen
Adolf Muschg, photographiert von Isolde Ohlbaum.

Dies zur Einstimmung und als Warnsignal. Vordergründig ist Kleists Epigramm Die unverhoffte Wirkung an Eltern gerichtet, aber es gilt für Schulmeister jeder Art, und vor ­literarischen kann man nur warnen. Du zeigst auf den Mond, und wohin schauen die Hunde? Auf ­deinen Zeigefinger.

Natürlich sind Fingerzeige nicht per se verwerflich. Sie können Schule machen, in grossen Zeiten der Literatur ist es eine hohe Schule, und in Zeiten der Textverarbeitung immerhin eine nutzbringende. Ein junger Hollywood-Produzent bewies mir, dass alle Produkte der dortigen ­Industrie, von Ben Hur bis zum Pferdeflüsterer, einem festen Schema folgen, mit dem man an Filmschulen bekanntgemacht wird. In der Informationsgesellschaft will eine unabsehbare ­Datenmasse, um nicht grau zu bleiben, in fast hoffnungsloser Konkurrenz zum dominanten Bild zu «Geschichten» arrangiert werden, und dafür gibt es das Know-how erprobter Regeln. Poesie kommt von «Machen», Werkstattgespräche unter Leuten, die schreiben wollen, können spannend sein, denn sie erlauben, die persönlichsten Dinge im Schutz fiktiver Verschlüsselung zu ver­handeln. Im Rückblick betrachte ich die Schreibarbeit, die ich mit interessierten Freiwilligen dreissig Jahre lang an der ETH betreiben durfte, als den dankbarsten und wohl auch nachhaltigsten Beitrag meiner Lehr- und Forschungstätigkeit zu – ja, wozu eigentlich? Zur Alphabetisierung der Beteiligten; zur Verständigung darüber, was in unserer techno-ökonomischen Umwelt zu tun – und noch mehr: was zu lassen ist; was wir, als Personen, mit unserer Umwelt zu schaffen und was wir darin zu bestellen haben; wie wir gegenüber Mächten, die wir zugleich brauchen und als bedrohlich empfinden, bestehen können. Davon handeln Texte, auch wenn sie nichts davon ­direkt ansprechen müssen. Dass Kunst das Gegenteil ist von «gut gemeint», gehört zu den ersten Lektionen der Arbeit an einem Text.

Überhaupt ist sie nicht schmerzlos. «Warum muss ich das wissen?», war eine der Fragen, die Max Frisch an ihm vorgelegte Texte zu stellen pflegte; wenn der Text die Antwort schuldig bleibt, kann er noch so gut geschrieben sein: Er spricht nicht für sich selbst. Dieser Schwäche ist auch nicht durch das Alibi abzuhelfen, die Stärke des Textes zeige sich an anderer Stelle. Sprache ist überall präsent, oder sie überzeugt nicht, auch nicht, wenn sie besticht. Frisch war ein Feind von Gefälligkeit in jeder Form, auch der professionellen. Hält ein Text dicht, so kann er die Pointe entbehren; trägt die Musik, so braucht sie keinen Paukenschlag.

Das Heikelste an unseren Schreibdiskursen: sie gaben keine Regeln vor – die Zeiten norma­tiver Poetik sind vorbei –, aber sie stellten doch immer wieder fest, was nicht passt, nicht sein muss oder gar nicht geht. Und glichen darin jenen Dialogen des Sokrates, dessen Daimon ihm nie ­etwas Positives sagte – dafür hatte er gar kein Organ –, aber um so deutlicher, was nicht sein soll. Was unsere Diskurse, glaube ich, vor Destruktivität bewahrte: die Kriterien der Kritik bezogen wir aus keinem externen Fundus; der Autor selbst hatte uns den Massstab dafür vorgegeben, und damit musste erlaubt sein, eine bestimmte Stelle besser zu verstehen, als er sie gemacht hatte. Dabei bewegten wir uns keineswegs auf festem Boden. Denn in der Literatur gilt ja nicht nur ­keine Regel ohne Ausnahme, man muss auch gelten lassen, dass die Ausnahme zur Regel wird. Noch mehr: literarische Texte belegen den auf die Teilchenphysik gemünzten Satz Niels Bohrs: Wahre Sätze erkenne man daran, dass ihr Gegenteil genauso wahr sei.

Wie aber schützt man ein solches Urteil gegen Beliebigkeit? Oder anders: warum kleben wir an Grundsätzen, wenn das Lesevergnügen sie dementiert? «Ein Rabe fliegt so schwarz und scharf, wie ihn kein Maler malen darf, wenn er’s nicht etwa kann», dichtet Ringelnatz. Van Gogh hat es gekonnt – wäre er den Akademikern seiner Zeit gefolgt, er hätte es nicht gedurft, und ­seine Kunst wäre vergessen. Noch ein Beispiel: in der anspruchsvollen Literatur herrscht Plauderverbot. So war es möglich, Robert Walsers Prosa so zu lesen, wie er sie selbst bezeichnet hat: als «Stückli», heitere, nicht allzu schwer wiegende Beiträge unterm Strich seriösen Nachrichtenwesens. Es waren nur wenige – Kafka, Benjamin –, die sie ganz anders gelesen haben und im Wortspaziergänger den Meister erkannten. Heute ist die ganze Welt auf ihrer Seite und muss ihn gar nicht mehr lesen, um zu wissen, dass er zu den Grossen gehört.

Leider begründet auch Verkanntheit keinen Anspruch auf Nachwelt – heute weniger als je, da das digitalisierte Wort ins globale Zeitalter explodiert, bei gleichzeitiger Implosion der literarischen Kultur. Die Folgen für das Buchwesen, für die Fähigkeit und Bereitschaft zum Lesen und Schreiben sind noch nicht abzusehen. Aber wenn eine Welt untergeht, bleibt immer Luthers Rat, vorher noch einen Baum zu pflanzen. Das Ende der Aufklärung hiess für Voltaire: Cultiver son jardin. Wenn sich der Boden für Lesen und Schreiben verkrümelt: wie anders soll man ihn befestigen als durch Lesen und Schreiben?

Das Schreiben, das ich meine, ist notwendig von Lesen begleitet: nicht nur von Büchern, sondern von Gesichtern in der Strassenbahn, von Blättern am Baum oder im Rinnstein, von unbequemen Gefühlen. Es arbeitet mit der Hypothese, dass noch nichts auf dieser unserer Welt ­jemals wirklich gesehen, erfahren, verstanden worden ist. Rilke beschreibt diese Tatsache im Malte Laurids Brigge als Schock eines jungen Dänen in Paris. «Ist es möglich…?», fragt er angesichts vieler ganz banaler Fälle, des Streichens eines Butterbrots, des Austrudelns eines abgestürzten Blechdeckels auf dem Fussboden. Er entdeckt, wie mit einem Schlag vor den Kopf, die Möglichkeitsformdes Wirklichen. Sie findet in der Sprache statt. Und plötzlich stand er vor einem neuen Anfang der Dinge wie am ersten Schöpfungstag.

So ungefähr sehe ich das Schreiben, als Verpflichtung zum noch nie Gesehenen, noch nie Erfahrenen im längst Abgehakten, Abgeschriebenen, Verdinglichten, an der Börse Notierten. So ungefähr? «So und nicht ungefähr», heisst das bei Max Frisch, meinem Lehrer.

Zur Problematik des Lehrers noch eine Geschichte aus dem Zen-Buddhismus (der nie eine Schule des Schreibens war, darum die beste, die ich kenne):

Meister Gutei hatte die Gewohnheit, beim Lehrgespräch seinen Zeigefinger zu heben. Als er einen schlechten Tag hatte, übertrug er die Unterweisung seinem besten Schüler. Der setzte sich vor die Runde seiner Mitbrüder und erhob den Zeigefinger. Da sprang Gutei von seinem Lager auf und schnitt ihm den Finger ab. Dann verbeugte er sich.

Darauf hob er selbst, wie immer, den Zeigefinger.

Jetzt war es am Schüler, sich zu verbeugen.

Um noch schnell Goethe zu zitieren: «Mach’s einer nach und breche nicht den Hals!»

 

Dieser exklusive Sendbrief von Schriftsteller Adolf Muschg richtet sich an all jene, die schon immer wussten, dass sie Schriftsteller sind. Insbesondere richtet er sich aber an jene, die auch andere an ihrer Passion teilhaben lassen wollen. Unser Nachwuchsforum TREIBHAUS ist der schnellste Weg in diese Öffentlichkeit.

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