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Teufelszeug mit Tremolo

Der Volksmund sagt: Es ist schwierig, über Popmusik zu schreiben.
Oder: Es ist sinnlos, über Popmusik zu schreiben.
Beides ist nicht wahr.

 

Über Musik zu schreiben, ist das Normalste der Welt. Denn Sprache ist das Normalste der Welt. Wir alle brauchen sie täglich, wir alle beherrschen sie in den unterschiedlichsten Situationen. Geschriebene Sprache ist höchstens einen Tick unnormaler. Wir alle schreiben Sprachnachrichten und Einkaufslisten, ohne lange darüber nachzudenken. Sprache ist so weit entfernt von Kunst, wie man nur sein kann. Sprache ist das erste Mittel der Wahl, wenn man etwas beschreiben will. Einer, der sich in der Welt der Schreinerei besonders gut auskennt, wird vielleicht die Arbeit eines Schreiners beschreiben wollen. Einer, der sich in der Welt der Musik gut auskennt, beschreibt die Arbeit eines Musikers. Über Musik zu schreiben ist das Normalste der Welt.

Und doch ist die Haltung nicht unverbreitet, man könne etwas, das man anfassen und sehen kann, besser beschreiben. Was heisst «besser»? Am Beispiel des Schreiners: Jeder weiss, was ein rechter Winkel ist. Jeder weiss, wie ein gedrechseltes und wie ein vierkantiges Tischbein aussieht. Jeder weiss, was Holz ist. Jeder weiss, was glänzend poliertes Tropenholz ist und was eine wurmstichige Tischplatte. Liest man hingegen, ein Stück von Secret Circuit höre sich an, als träumten melancholische Geisseltierchen von einer Hippieparty in der Tropfsteinhöhle, dann ist man sich nicht so wirklich sicher, ob man auch wirklich weiss, wie das gemeint ist. Man kann Schreinerei nicht «besser» beschreiben als Musik. Aber so, dass man sicherer sein kann, alle verstehen das Gleiche.

Da tut sich ein Spalt auf. Ein Spalt aus Bedeutung und Verunsicherung. Er ist, so meine ich, der Hauptgrund für die oft gehörte und gelesene Behauptung, es sei total schwierig, über Musik zu schreiben. Zu diesem Spalt, zur Tatsache, dass man das normalste und alltäglichste Mittel benutzt, um etwas zu beschreiben, das zugleich extrem direkt und extrem ab­strakt ist, kommen im Falle der Popmusik noch zahlreiche weitere «Schwierigkeiten» dazu. Sie hat eine unüberschaubare Vielzahl von Genres und Subgenres. In ihr steckt eine unüberschaubare Vielzahl von Codes. Menschen sehen eine unüberschaubare Vielzahl von Bedeutungen in ihr. Popmusik hat eine Geschichte, die sie grundsätzlich mit gesellschaftlichen Umwälzungen zu verbinden scheint, sie ist ein Business, das Sein und Schein auf verschiedenste Weise und aus oft verdächtigen Motiven durcheinandermischt, und über sie zu schreiben ist Teil einer von Krisen tatsächlich zerrütteten Branche – des Journalismus. Schlimmer noch – des Kulturjournalismus.

Um diesem Wust von Sachverhalten und Ungefähritäten vernünftig entgegenzutreten, um all das argumentativ auseinanderzuklauben, bräuchte man mindestens Buchlänge. Zum Glück aber ist Musik ihrem Wesen nach viel eher unvernünftig als vernünftig. Eher ein Mahlstrom als abgefüllte Flüssigkeit in 1,5-Liter-PET-Flaschen. Also mal kurz ab in den Mahlstrom:

Der schweizerisch-britische Songwriter Phil Hayes sagte 2015: «Als Kind dachte ich beim Musikhören, dass es nicht nur ein Lied ist, sondern eine Gruppe von Menschen in einem Raum, am anderen Ende der Welt.» (Pop-)Musik ist also eine Nachricht, eine Übertragung, etwas Seltsames, nicht genau Erklärliches, das sich an einem Ort ereignet, wo andere sind. Ähnliches meinte der Wiener Radiojournalist Fritz Ostermayer, als er einmal die Erfahrung, in jungen Jahren zum ersten Mal die mit heftigem Tremolo-Effekt bearbeitete Stimme im Tommy-James-&-the-Shondells-Song «Crimson and Clover» zu hören, etwa so beschrieb: «Da sprachen Aliens zu mir. Alles veränderte sich.» Obwohl der Song 1968 ein Radiohit und Nummer eins in der Schweizer Hitparade war, stellte sich dank ihm die Erkenntnis ein: Man wird angerufen von fremdartigen Lebewesen, die sich an etwas Ureigenes, im Körper Schlummerndes wenden. Musik, das sind Klänge, Geräusche, Noten, Temperamente und Vehemenzen, die ineinandergeschichtet sind und Unnennbares mit einem anstellen. Musik dringt in den Körper ein, in die Gehirn- und Nervenzellen. Alles, was man an Musik beschreibt, muss man aus dieser Grunderfahrung und der Musik selbst nehmen. Nicht aus den Behauptungen des Business und auch nicht der Musiker, die gerne (in Tönen und vielleicht mehr noch in Texten und Bildern) Nachrichten aussenden wie «Ich bin wütend», «Ich bin sensibel» oder «Ich bin tiefschürfend». Man muss wissen, dass ein Gitarrenakkord an sich nichts bedeutet, in der richtigen Umgebung, mit der richtigen Spielweise aber alles. Absicht und Einordung in Traditionen sind uninteressant, das Umwälzende, Verrückte, Hingebungsvolle muss in der völlig losgelösten Privatheit eines Raumes am anderen Ende der Welt entstehen. In Radikalität. Allerdings gilt: Diesen inspirierten Moment radikaler Privatheit gibt es nur, weil es die Welt rundherum gibt. Musik ist wie jede Kunst und noch vieles andere ein Zurückwerfen von Realität, ein Anschreien dagegen, ein versuchtes Einfangen, ein Verändernwollen, ein verzweifeltes Davonzurückziehen. Und nur wenn diese bearbeitete, mit Tremolo und anderem Teufelszeug verformte Realität im Zuhörer Gestalt annimmt und Ungeheuerlichkeit, erreicht Musik ihre volle Wirkung. Ungeheuerlichkeit muss nicht laut sein. Sie stellt sich ein, wenn es um mehr zu gehen scheint, als es gibt. Welche Eigenschaften genau das Mehr der jeweiligen Musik hat, was es auslöst, wozu es Stellung bezieht, was es in Frage stellt, was es lächerlich macht, was es hochhält, das gilt es zu beschreiben, auch auf die Gefahr hin, sich lächerlich zu machen. Ein toller Schreiber über Musik ist Morrissey, der mit den Smiths berühmt gewordene Sänger, wenn er in seiner ohne jeden Absatz dahingeschriebenen «Autobiography» erzählt, wie es ihn verändert habe, in den frühen Siebzigern Lou Reed, David Bowie, Mott the Hoople, T-Rex und vor allem die New York Dolls zu hören: «Lou Reeds Starren ist kalt und seine Romantik brutal. Seine Lieder sind halb gesungene Melodien aus Bedrohung.» Ein langweiliger Schreiber über Musik ist David Byrne (Ex-Talking-Heads), wenn er in «How Music Works» versucht, in saubere Kapitel unterteilt zu allem etwas Geistreiches, Informatives zu sagen: zum Auftreten, zum Aufnehmen, zur Technologie, zu den Finanzen. Ein weiterer toller Satz über Musik: «Und durch diesen abstossenden Friedhof des Universums dröhnt das gedämpfte, wahnsinnig machende Schlagen von Trommeln und das dünne, monotone Wimmern gotteslästerlicher Flöten aus den undenkbaren, unbeleuchteten Kammern jenseits der Zeit; das abscheuliche Getrommel und Gepfeife, zu dem langsam, ungeschickt und absurd die gigantischen, dunklen letzten Götter tanzen.» Der ist vom US-amerikanischen Horrorschriftsteller H. P. Lovecraft. Er beschreibt das ultimativ sinnentleerte Chaos, in dessen Mitte der blind vor sich hinnagende Dämonen­sultan Azathoth sitzt – der grösste der «anderen Götter».

Musikjournalisten haben freilich andere Aufgaben. Sie haben zu erklären, vorzustellen und anzuregen. Lieber nicht sollten sie Trends ausrufen, Leser(innen) mit gezwungen originellen Textanfängen «hineinziehen», das nächste grosse Ding suchen oder erklären, warum Sängerin XY 100 Millionen YouTube-Klicks hat. Denn die Gründe dafür sind langweilig. Warum solche Text-«Ideen» nicht nur durch den Boulevard, sondern auch durch viele sogenannte Feuilletons geistern, bleibt mir ein Rätsel. Die Schreiber müssen nicht das Offensichtliche originell beschreiben, sondern das Originelle offensichtlich machen. Erklären, vorstellen, anregen heisst auch: In der eigenen Sprache Bilder finden, die man noch nicht woanders gelesen hat und mit denen man einverstanden ist.

Freilich kann man sich fragen: Wozu der ganze Käse, wozu versuchen, das Unnennbare zu beschreiben, wenn es doch jeder in jeder Sekunde zack, zack anklicken und selber hören kann? Nun, wenn alles immer in grotesk hoher Menge verfügbar ist, ist die gut beschriebene, begrenzte Auswahl viel wert. Wer zu allem, was ein paar Momente lang wichtig erscheint, noch ein Häppchen verfassen will, erklärt sich selbst für unnötig. Eine solche klare Auswahl funktioniert auf der Zeitungsseite viel besser als auf dem bunten, sich nach unten unaufhörlich verlängernden Fitzelmosaik des Computerbildschirms. Und: Eine solche klare, kuratierte, begründete, erhörte Auswahl kann selbstverständlich nicht zustande kommen, wenn man besessen nur noch an Sparen und Synergien denkt, als wäre man Wolfgang Schäuble. Nur um doch noch versucht zu haben, etwas Vernünftiges zu sagen zur normalsten Sache der Welt.

Crimson and Clover. Over and Over.

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Stefan Bachmann, fotografiert von Maurice Haas / Diogenes Verlag.
Charlotte Brontë und das Nichts

Sein Debüt wurde in den USA ein Riesenerfolg, da war er gerade 20 Jahre alt. Weniger bekannt ist: Fantasy-Autor Stefan Bachmann ist auch ausgebildeter Musiker. Aber wie kommt jemand überhaupt auf die Idee, zu schreiben oder Musik zu machen?

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