Von Unteriberg nach Luzern
Mich wundernd über glänzende Schweizerkreuze an neuerstellten Kuhställen, mich wundernd über Ortsflecken, die Namen tragen wie Nügüetli, Höhport und Schmalzgruben, gelange ich mit einem von Kurve zu Kurve sich wiegenden Postauto tiefer und tiefer hinein in die Innereien des Kantons Schwyz, bis nach Unteriberg.
An der hintersten Haltestelle im Dorf steige ich aus und stehe auf einem grossen Platz, der überschwemmt wird von sonntäglicher Leere; es fragt sich, ob Unteriberg auf die nächste Viehschau wartet oder aber auf die Wiederauferstehung Wilhelm Tells. Nur vor dem Gasthaus Horat sitzen drei Männer an dem einzigen dort vorhandenen Tisch; zwei rauchen, einer trinkt, keiner spricht – alle drei duellieren sich mit der Ereignislosigkeit. Bei dem, was der Koch zu dem zwischen zwei handdicken Brotscheiben steckenden Käse serviert, handelt es sich gewiss um die Gurken gewordene Form seines Mitleids; ein Sandwich ohne Fleisch hält er für eine halbe Sache.
Bald hole ich mit der befeuchteten Beere des Mittelfingers die letzten Brosamen vom Teller und schwinge mich aufs Rennrad. Das elefantengraue Band der Strasse schlängelt sich durch die von Hochmooren durchzogene Landschaft, und weil mich wieder und wieder batteriebetriebene Velos überholen, denke ich an die Polin, die neu mit mir auf dem Bauernhof arbeitet. Neulich habe ich sie gefragt, welcher Arbeit sie in Polen nachgegangen war. «In Polen Arbeit schwierig», sagte sie. Damit war das Thema für sie erledigt. Ihr könnte ich kaum erklären, wieso in diesem Land so viele sportliche Leute auf einem batteriebetriebenen Fahrrad sitzen. Wollen sie gleich schnell fahren wie zuvor, aber ohne zu schwitzen? Wollen sie die schöne Natur möglichst rasch hinter sich lassen? Abgeschreckt von der magnetischen Wirkung des auch hier unausbleiblichen Passrestaurants gehe ich nahtlos zur Abfahrt über; fast tausend Höhenmeter geht es runter nach Schwyz.
Am Fuss des Rigi, kurz nach Immensee, biege ich in einem Kreisel falsch ab und befinde mich unverhofft bei der legendenumwobenen Hohlen Gasse; ein kurzer, von einem dichten Streifen Wald beschatteter Hohlweg, der, beflügelt von der geistigen Landesverteidigung, 1937 in den «ursprünglichen» Zustand gebracht worden war. Das heisst: die Steinblöcke rechts und links der alten Strasse wurden in die Mitte gerückt, damit der Hohlweg schön eng werde, der alte Asphalt wurde durch Steine ersetzt, um die Stätte historischer wirken zu lassen. Schulklasse um Schulklasse spürt hier seither einem Volkshelden nach, wohlwissend, dass es ihn nicht gegeben hat. In welcher Schweiz lebten wir heute, wenn Tell in der Geschichte Schillers niemanden umgebracht, sondern zum Beispiel die Schokolade oder meinetwegen das Birchermüesli erfunden hätte?
Am Rand der Hohlen Gasse, wo sich fabelhafte Historie und nüchterne Gegenwart die Hand geben, pflücke ich von einem blühenden Gundermann, knabbere die winzigen, zart-süssen Blüten. Ausgleichende Wirkung auf den Stoffwechsel wird dem Gundermann nachgesagt. Das kann ich, heimisch in einem Land, dessen Wohlstand und Geschichte mir immer wieder Rätsel aufgeben, gut gebrauchen. Im Kreisel erwische ich diesmal die richtige Abzweigung nach Luzern; geblendet vom silbernen Vierwaldstätterwasser lasse ich die Kette schnurren.