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Asyl im Schlagwort

Eine Lektüre von Urs Widmers «Top Dogs» erweist sich als Streifzug durch lexikalische Vergangenheiten. Dabei zeigt sich: eine neue und gewaltbereite Generation Wirtschaftsbegriffe erschlägt nette ältere Wortsenioren. Und keiner schaut hin.

Ach, die Wirtschaft. Wo soll man da nur anfangen. Nehmen wir 1986. Da hastete ich eines Morgens verspätet durchs Klassenzimmer an meinen Platz. Mathelehrerin Fräulein lic. oec. Oesch kommentierte das mit staubtrockener Ironie: «Passen Sie auf, sonst stehen Sie noch auf Ihren Rock!» Ob sie schon Kenntnis hatte vom Minirock-Index, bezweifle ich. Inzwischen ist er jedenfalls wissenschaftlich bestätigt: Zieht die Konjunktur an, werden die Röcke kürzer und umgekehrt. Schauen wir also mal. Wie jetzige Recherchen ergeben, reisten zu der Zeit die Staats- und Regierungschefs der damaligen G7 tatsächlich in heiterer Laune zum Weltwirtschaftsgipfel in Tokio. Hausse an den Aktienmärkten, stabile Zinslage, tiefer Ölpreis, billige Kredite. Das Wachstum der Volkswirtschaften ausserhalb des Ostblocks war durchwegs erfreulich. Man glaubte fest an die Entschlossenheit der USA, ihr historisch hohes Haushaltsdefizit von über 200 Milliarden Dollar bis 1991 komplett auszugleichen. Easy! Okay, da waren noch ein paar offene Währungsfragen. Dennoch zeigte sich die «ZEIT» sehr zuversichtlich: «Die Chancen, die Weltwirtschaftsprobleme im Geiste der Mitverantwortung zu lösen, sind grösser denn je.» Das Stück Stoff, das sich an jenem Morgen um mein Gesäss spannte, zeugte also nicht einfach von Teenie-typischen Anzieh-Allüren, sondern auch vom unerschütterlichen Optimismus der Achtzigerjahre.

Genauso wenig zufällig war dann wohl just ein Jahrzehnt später mein Outfit an einer Vorstellung von Urs Widmers «Top Dogs». Das geblümte Kleid reichte klar unter die Knie. Nicht weil inzwischen Kurt Cobain Madonna als meine Stilikone abgelöst hatte. Es war der Look des «Nullwachstums», der «Langzeitarbeitslosigkeit». Denn die Neunzigerjahre waren gerade für die sonst erfolgsverwöhnte Schweiz eine Zeit zum Vergessen. Praktisch vom ersten Tag an ein Desaster. Unter all den Immobilienblasen, die da platzten, war die hiesige eine der grössten. Zudem kämpfte das Land mit dem starken Franken und den Folgen des Neins zum EWR. In der Folge performte die Schweiz regelmässig mieser als das krisengeschüttelte Japan. Die Arbeitslosigkeit verharrte lange auf über fünf Prozent. All das traf das Land etwa so empfindlich wie die gleichzeitige Erkenntnis, dass man doch keine Insel der Glückseligen sei. Einige Beobachter nannten die Ära denn auch «Grosse Depression» oder «Verlorenes Jahrzehnt».

Urs Widmers Theatertext «Top Dogs» lieferte die bissige Zeitdiagnose dazu: Kapitalismus ist unmenschlich und pervers. Er bringt nicht Prosperität und Frieden. Auf der Welt nicht und auch in der Schweiz nicht. Nicht mal – das war der Clou – allen Reichen. Mit dem Fokus auf den Upper-Class-Loser schufen Widmer und der damalige Neumarkt-Co-Intendant Volker Hesse gar ein Subgenre des Sozialdramas. Zugeschnitten auf westliche Wohlstandsgesellschaften wie die Schweiz lautete der Newsflash: Jetzt landen nicht mehr nur die einfachen Leute in der Arbeitslosigkeit, sondern auch ganze Etagen von Topmanagern, dynamische Erfolgstypen in Anzügen, mit Autotelefonen und Ferienhaus. Aufs RAV schickt Widmer sein Personal zwar nicht. Standesgemäss lässt er seiner gehobenen Klientel von der Outplacement-Agentur «New Challenge Company» die «optimale Unterstützung zur Karrierefortführung» zukommen. Mit gruppentherapieähnlichen Gesprächen oder Rollenspielen sollen sie das Trauma des Jobverlusts überwinden und fit werden für die nächste Firma. In monologischen, dialogischen und chorischen Passagen ohne feste Dramaturgie blickt «Top Dogs» denn auch tief in die seelischen Abgründe entlassener Spitzenkräfte. Sechs männliche und zwei weibliche Figuren offenbaren Scham, innere Entfremdung, Selbstverleugnung und Statuspsychosen bis hin zu Rache- und Gewaltfantasien. In seinen besten Momenten schaffte das Stück die perfekte Balance zwischen echter Beklemmung und absurdem Klamauk.

Nun verhält es sich mit alten Texten manchmal wie mit alten Textilen. Zwar mögen sie noch sitzen, passen tun sie trotzdem nicht mehr. Als «Top Dogs» anlässlich der neuesten Weltwirtschaftskrise nach 2008 x-fach neu inszeniert wurde, schrieben die Veranstalter in ihre Ankündigungen: «Das Stück hat nichts von seiner Brisanz eingebüsst.» Stimmt. Und stimmt überhaupt nicht. So hat die Kernbotschaft des Texts, den Widmer als fundamentale Kritik an den entfesselten Märkten verstanden haben wollte, sicher nach wie vor Gültigkeit. Doch sie kommt nicht mehr an. Das liegt einerseits an der hauptsächlichen Qualität des Stücks: Vor bald zwanzig Jahren war es ein von Gegenwart durchdrungenes Statement. Es liegt andererseits an der Qualität eines Autors, der sich durch Erkenntniswut auszeichnet. Nun liegt es in der Natur der Sache, dass man etwas nicht mehrmals entlarven kann. Zumindest nicht mit den gleichen Mitteln. Denn was man zu einem gegebenen Zeitpunkt erkennen kann, ist immer auch begrenzt durch die momentane Sensibilität. Topmanager auf der Strasse? Eben: Old News. Dazu haben wir jetzt das definitive «Tagesschau»-Bild: beanzugte Lehmann-Brothers-Angestellte, die Pappkartons aus schicken Bürogebäuden tragen. Das Interesse für den Gemütszustand entlassener Kaderleute ist heute ebenfalls schwerer zu mobilisieren. Man hat längst genug gehört von obszönen Gehältern, gekauften Politikern und ausgepumpten Bürgern. So reagiert man schon gelangweilt-gereizt auf Widmers zwar platte, aber eigentlich träfe Humorpersiflage bei der «Gipfelkonferenz» ganz zu Beginn des Stücks. Der Anlass heisst so, weil es dabei ein «Gipfeli» für alle Teilnehmenden gibt.

Am klarsten offenbart sich die starke Zeitcodierung des Texts an dessen sprachlichem Gewebe. In einer Szene hauen sich die Top Dogs neumodische Ökonomenbegriffe um die Ohren. Sie heisst «Schlacht der Wörter». In einer Zeit, in der gerne mit Worten wie «Raubtierkapitalismus» hantiert wird, wähnt man sich bei Widmer eher im lexikalischen Streichelzoo. Eine Idylle, wo die «Cash Cow» friedlich am «Cashflow» grast, um das Bild auszureizen. Eine Kaskade anglizistischen Management-Neusprechs reichte 1997 noch aus, um Globalisierungsgrusel zu erzeugen: «Break-even-Point». «Shareholder Value». «New-Public-Management». Heute vermittelt der Sound von «Downsizing» eher resigniertes Seufzen als schreckliches Grausen. Auch beim Wort «Humankapital» läuft es kaum noch jemandem kalt den Rücken hinunter. Vor ein paar Jahren war es in der hippen Freelance-Ecke gar Mode, sich augenzwinkernd als solches zu bezeichnen. Sich zu seiner «Arbeitsmarktfähigkeit» Gedanken zu machen, gehört einfach dazu. «Firmenkultur», «Marketingstrategie» oder «Projektmanagement» entfalten überhaupt keine Wirkung mehr. Und was ist schon «Jobsharing» im Vergleich zu «Bullshit-Jobs»? Soll auch keiner mit «Zero Base Budgeting» kommen. Wir hatten inzwischen «Junkbonds», «Credit Default Swaps» und «Toxic Assets». Heute steckt das Entsetzen in Wörtern wie «Too-Big-to-Fail» und «Austerität» oder in «Off-Shore Tax-Havens». Die rüde Mentalität der Zeit zeigt sich dieser Tage in ausgewachsenen sprachlichen Sauereien wie dem Akronym PIIGS für Portugal, Irland, Island, Griechenland und Spanien.

Ach, die Wirtschaft. Wo soll man da bloss aufhören. Mit Frankenschock und Negativzinsen! Mit Währungskrieg und MEI. Vielleicht auch mit der Nachricht, dass der Immobilienblasenindex der UBS jetzt auch Appenzell Innerrhoden zur Gefahrenzone erklärt. Man könnte auch «Forbes» zitieren, die amerikanische Wirtschaftszeitschrift, die schreibt, der Finanzsektor vermittle einzig die Illusion von Prosperität. Oder wieder die «ZEIT», der bei einer kürzlichen Weltwirtschaftsanalyse der «Schock in die Knochen» fuhr. Und Obama? Der kündigte Anfang Jahr das tiefste Haushaltsdefizit seiner Amtszeit an: 468 Milliarden Dollar. Oder Donald Trump? Der sagt, letztlich müsse man bloss die Steuern senken, um schliesslich zu höheren Steuereinnahmen zu kommen, mit denen man dann das Defizit ausmerzt. Easy! Ja, wo endet eine Geschichte, die sich aller Umwälzungen zum Trotz wiederholt? Am Anfang. Im Index. Und vielleicht ist es Ihnen auch aufgefallen: In diesem Sommer waren die Röcke oft bodenlang. Trotz Rekordhitze.

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