Nase zu und durch
Wenn es um die Verwendung wüster Wörter geht, geht die deutsche Sprache Sonderwege. Statt wie andernorts Negatives mit Sex in Verbindung zu bringen, bevorzugen Deutsche, Schweizer und Österreicher Exkrementelles. Eine kleine Reise durch unsere aufregende Welt des Fluchens.
Warum bezeichnen unsere Sprachen etwas, das einem nicht gefällt, also etwas Negatives, mit einem Ausdruck, der sich auf Sexuelles bezieht? Es ist doch zumindest nicht selbstverständlich. Nun, es war in den achtziger Jahren, dass ich zum ersten Mal darauf stiess und staunte. Ich schrieb darüber einen Aufsatz «Negative Sexualität in der Sprache», der 1986 erschien. Und bald danach nahm ich mir vor, mit einem Buch auf das Thema zurückzukommen. Dies geschah in den letzten drei bis vier Jahren – zunächst übrigens eher lustlos, dann aber immer munterer und überzeugter.
Frankreich
Ich bin ja Romanist und also zuständig für die vom Lateinischen herkommenden Sprachen. Da war ich seinerzeit an dem französischen Verb baiser hängengeblieben. Es heisst ja «küssen», aber nur, wenn es um Körperteile und Gegenstände geht: baiser la main, baiser la croix. Wenn man aber «jemanden küssen» meint, also eine Person, muss man embrasser sagen. Denn baiser ist längst in vulgärer Sprache zum Ausdruck für den Geschlechtsakt geworden, und dies hat nun, wenn es um einen Kuss ging, einen Satz wie «Avant de partir il a baisé sa femme» unmöglich gemacht. Doch darüber gibt es nichts zu staunen.
Das Staunen kam mir erst, als ich feststellte, dass baiser – und natürlich wiederum vulgär geredet – zusätzlich zum Sexualakt auch «hereinlegen, betrügen, anschmieren» heisst. Und dies ist eine überaus häufige Verwendung. Meine Frage war (und genau dies gilt es hier zu fragen): Was hat das eine, also der «Akt», was hat der «GV», wie Martin Walser in seinem neuesten Buch «Die Inszenierung» das Wort, das ich hier vermeiden will, abkürzt, mit dem anderen zu tun? Wie kann man gerade ihn als Bild, als Metapher für Betrug nehmen? Dann aber kam ich rasch darauf, dass dieses baiser als «hereinlegen» kein Einzelfall ist, sondern nur einer unter sehr, sehr vielen – und zwar gerade in «meinen» romanischen Sprachen. Im Französischen ist das überaus häufige und vulgäre foutre ein weiteres Beispiel – es meint ebenfalls den «Akt», aber zuallermeist – übertragen verwendet – etwas anderes. Und fast immer geht es da um Negatives: je m’en fous (das ist mir scheissegal) oder il est foutu (er ist fertig); allerdings ist foutre in il est bien foutu neutral, wörtlich «er ist gut gemacht», faktisch «er sieht gut aus», und das jetzt etwas veraltete Adjektiv foutral meint gar etwas sehr Positives – da ist also Ambivalenz in der Bewertung des Sexuellen. Und dann gibt es französisch das auf Schritt und Tritt zu hörende con – es kann als Beschimpfung dienen von Mann zu Mann, und dies ist normalerweise der Fall, aber seit einiger Zeit sagen es auch Frauen (es ist etwas wie Emanzipation).
Es gibt übrigens auch die weiblichen Formen la conne und la conasse. Con kann aber auch, als Adjektiv, bloss etwas wie «ärgerlich» oder «komisch» meinen: c’est con comme truc. Aber diese Bedeutungen sind alle von der eigentlichen Bedeutung des Worts abgeleitet, und die bezieht sich nun einmal auf das weibliche Geschlechtsorgan. Natürlich denkt man nicht daran, wenn man es sagt, aber man weiss es doch, und deshalb ist diese Verwendung ja auch vulgär. Sexuelle Ausdrücke werden also bildlich, metaphorisch für Negatives verwendet. Und wenn ich hier von «vulgär» rede, ist dieser Ausdruck locker zu nehmen, weil das Vulgäre in der Sprache nicht klar vom bloss Familiären zu trennen ist.
Englisch
Auch im Englischen ist diese Verwendung gang und gäbe: fuck oder fucking («Who the fuck is Alice?»), fuck off! (verpiss dich!); motherfucker, das in einem normalen Englisch-Deutsch-Wörterbuch schlicht mit «Arschloch» wiedergegeben wird, obwohl es eigentlich ja etwas anderes meint. Aber natürlich ist diese Angabe trotzdem richtig, weil wir – darauf kommt es an – in der Situation, in welcher der Englischsprachige motherfucker sagt, Arschloch sagen. Ich habe in meine Studie nun fast alle romanischen Sprachen einbezogen – vom Portugiesischen im Westen bis zum Rumänischen, der romanischen Insel, im Osten.
Übrigens verhält sich das Italienische (und also natürlich auch das Italienische der Schweiz) hier anders als das Französische: da wird nämlich nicht etwas Weibliches negativ heran-gezogen, sondern etwas Männliches. Die Italiener sagen cazzo, wenn sie verärgert ihre Aussage bekräftigen wollen, also etwa wenn wir sagen: «Was, verdammt nochmal, willst du eigentlich?», sagen sie: Che cazzo vuoi? Und cazzo meint das männliche Glied. Und wenn wir sagen: «Kümmre dich um deine eigenen Dinge!», sagen sie: Fatti i cazzi tuoi! Umgekehrt ist dann für sie una ficata, was wie la fica etwas Weibliches ist, eine sehr positive Sache!
Deutsch
Ich bezog dann weitere Sprachen mit ein: durch Lektüre, Nachschlagen und Befragungen machte ich mich kundig – Niederländisch, Schwedisch, Russisch, Ungarisch, Türkisch. Es wurden so insgesamt 15 Sprachen. Und da stiess ich auf den «deutschen Sonderweg». Das Deutsche verhält sich nämlich, wenn es vulgär um Negatives geht, völlig anders als alle genannten Sprachen. Denn alle von mir untersuchten Sprachen gebrauchen, wenn es um Negatives geht, Ausdrücke für Exkrementelles (oder, aber dieses Wort gefällt mir weniger oder noch weniger, Fäkalisches) – die bildliche Verwendung der entsprechenden Ausdrücke (Entsprechungen somit für Scheisse, beschissen usw.) ist also nirgends unbekannt, am allerwenigsten gleich im Französischen und Englischen – merde ist französisch auf zwei Kontinenten wahrlich nicht selten und asshole im Englischen aller fünf Kontinente ebenso wenig.
Aber diese anderen Sprachen gebrauchen zur Bezeichnung von Negativem vorwiegend oder sogar sehr vorwiegend Ausdrücke für Sexuelles. So auch das dem Deutschen sonst sehr ähnliche Holländische. Dieses verwendet nämlich, wenn es vulgär um Negatives geht, ebenfalls sehr vorwiegend Ausdrücke für Sexuelles. Wenn wir auf Deutsch vulgär-familiär sagen: «Ich fühl mich beschissen», sagen die Niederländer in eben dieser Stillage, wenn man die Ausdrücke wörtlich ins Deutsche übersetzen würde (pardon!): «Ich fühl mich hodig» oder «Ich fühl mich mösig» (Ik voel me kloten oder Ik voel me kut). Vielleicht geht da übrigens das Russische am weitesten, obwohl jeder Pole oder Tscheche oder Kroate dies bestreiten würde; man will, auch wenn es um grobe Sprache geht, jeweils am besten sein…
Deutschschweiz
Das Deutsche unterscheidet sich von den anderen Sprachen also darin, dass es, von zwei Ausnahmen abgesehen, ausschliesslich Ausdrücke für Exkrementelles zur Veranschaulichung des Negativen heranzieht und solche für Sexuelles für diesen Zweck meidet. Wir Deutschsprachigen reden von Sexuellem nur, wenn wir Sexuelles meinen. Die beiden Ausnahmen sind das alemannische Gebiet im Südwesten des, europäisch gesehen, ja grossen deutschen Sprachraums.
Dies ist also eine räumliche Ausnahme, zu der natürlich auch das Hoch- und das Höchstalemannische der Schweiz gehört. Da gibt es vor allem einen Ausdruck, nämlich den sich von Heilbronn im württembergischen Unterland bis nach Saas Fee hinunter- oder besser hinaufziehenden und nun auch wieder, analog zu cazzo, männlich orientierten und konsequent auch für Männer reservierten Seckel. In der Schweiz wird er häufiger als im deutschen Seckelgebiet mit dem Zusatz Schof versehen. Eine weibliche Form wurde da bisher (ein emanzipatorisches Desiderat) nicht gebildet. Aber seckeln, wenn man also vom Verb ausgeht, können ohne weiteres auch Frauen: «Gring abe u seckle, seckle, seckle!», empfahl die unvergessene Schweizer Sprinterin Anita Weyermann.
Die andere Ausnahme ist nun aber eine zeitliche: die Jugend nämlich, denn Jugend ist, nicht anders als Alter, etwas Zeitliches, hat sich hier ein Stück weit, also nicht übermässig weit, europäisiert oder auch bereits, wenn man ans Englische denkt, globalisiert. Hierher gehört die direkte Übernahme von fuck etwa im bei uns wahrlich nicht seltenen Ausruf Fuck!. Das entsprechende deutsche Zeitwort, für die Älteren schwer zu handhaben, hat sich auch in der Schweiz offenbar neben das herkömmliche vögle oder vogle gedrängt – ein Import aus dem Norden. Aber vögeln gibt es überall, wo Deutsch gesprochen wird (das Wort hat übrigens etymologisch mit dem Vogel nichts zu tun).
Deutschsprachiger Sonderweg?
Es geht also nicht um einen deutschen, sondern um einen deutschsprachigen Sonderweg. Das heisst, dass wir Deutschsprachigen, so verschieden wir uns auch vorkommen und tatsächlich sind, hier, wenn es vulgär um Negatives geht, klar zusammengehören, wobei dann also die Schweiz zum deutschen Südwesten zu rechnen wäre oder der deutsche Südwesten zur Schweiz. So sind also die alemannische Schweiz, Österreich und Deutschland, gerade auch wenn es vulgär wird, nicht so weit auseinander, obwohl der deutsche Sprachraum sehr vielfältig ist. Sodann, ein anderer Punkt, war und ist das mit dem politischen «deutschen Sonderweg» eine Formel und These vor allem englischer Historiker. Man ist ihr gegenüber heute eher skeptisch (denn, so heisst es jetzt: jedes Land hat seinen Sonderweg). Dies kann mich aber nicht hindern, den Ausdruck für ein ganz anderes Feld zu beanspruchen.
Das Fluchen ist nur ein Fall von etwas Allgemeinerem, also der Bezeichnung und der Äusserung von Negativem. Dazu gehören auch etwa Geringschätzung und Gleichgültigkeit, die Abwertung, die Feststellung von Unangenehmem (französisch con) und von Unordnung (Quel bordel là-dedans!), dann das Schimpfen, das Beschimpfen, das Beleidigen, das Imponieren, aber auch das Signalisieren von emotionaler Beteiligung oder auch lockerer Stimmung. Und speziell im Fluchen und Verfluchen steckt noch etwas Religiöses.
In meiner frommen katholischen Heimat, in Oberschwaben (das ist die der Schweiz gegenüberliegende Hochebene zwischen Bodensee und junger Donau), ist der häufigste Fluch Heilandsack! Und Seckel ist die übliche Beschimpfung oder heftige Abwertung, oft durch den verstärkenden Zusatz Jeses (also Jesus) angereichert: «Also wisset’ Se, descht en Jeses-seckel!» Ja und wie nun werden diese Dinge bezeichnet? Also zunächst, wie gesagt, durch Ausdrücke für Sexuelles und/oder Exkrementelles. Und zum Sexuellen gehört auch der vor allem in Südeuropa und im Orient verbreitete verbal-sexuelle Angriff auf Mutter und Schwester. Überall finden wir den Hurensohn, son of a bitch, hijo de puta usw.
Aber neben dem Sexuellen und Exkrementellen gibt es zu diesem Zweck auch Ausdrücke aus dem religiösen Bereich – Heilandsack! zum Beispiel, wobei da beides, Religiöses (Heiland und Sakrament) und Sexuelles (Sack als suggestive Abkürzung), wirkungsvoll zusammenkommen. Dann Krankheiten: Siech ist ja süddeutsch und auch schweizerisch ein klassisches Schimpfwort, bezeichnete aber zunächst einen Kranken; das war also zunächst ein Euphemismus. Schliesslich Tierbezeichnungen: Esel, Hund, Schaf, Rindvieh, Ochs usw., nicht zu vergessen das klassische deutsche Mischtier Sauhund. Für Frauen gibt es weniger Ausdrücke dieser Art; es ist, als würde es sich da nicht so lohnen, immerhin: Gans, Ziege (oder Geiss), blöde Kuh, doofe Pute.
Vulgäre Sprache als Männerwelt
Und nun noch eine mir wichtig scheinende, auch wohl objektiv wichtige Anmerkung zur Bewertung des «deutschsprachigen Sonderwegs». Man hat da gelegentlich die Deutschen (und da nun in der Tat eher die Deutschen als die anderen Deutschsprachigen) angegriffen wegen des beharrlichen Insistierens auf dem Exkrementellen. Namentlich Alan Dundes, ein (inzwischen verstorbener) in Kalifornien tätiger Ethnologe hat dies 1984 in einem Buch getan, das schon ein Jahr später auf Deutsch erschien, und zwar mit dem genialen, jedem von uns sofort verständlichen Titel «Sie mich auch!». Dundes, der die Deutschen nicht mochte, was sein gutes Recht war, hielt unser, wie er mit Freud sagte, Steckenbleiben im Analen für krank. Die These ist interessant, aber wohl doch verfehlt.
Jedenfalls kann man es auch anders sehen: Wir Deutschsprachigen bezeichnen Negatives mit etwas klar Negativem – Scheisse mit Scheisse. Wir ziehen, wenn wir von Negativem reden, nicht das Sexuelle mit hinein. Ist dies nicht positiv? Man muss sich ja zusätzlich klar machen, dass das Sexuelle im vulgären Sprechen sehr oft, teils unverhohlen, teils bloss verkappt, frauenabwertend ist. Schon das genannte französische con belegt es überdeutlich. Und es gibt dafür nun wirklich viele, viele Beispiele in den Sprachen, die ich mit dem Deutschen verglichen habe. Die feministische Sprachkritik hat dies übrigens kaum zur Kenntnis genommen. Es wäre Champagner geradezu auf ihre Mühle…
In der Tat stossen wir im vulgären Souterrain der Sprachen, in welchem (Schimpfen, Beschimpfen, Fluchen usw.) das Negative herrscht, auf eine kompakte Männerwelt, eine Welt mit Männerphantasien. Im Deutschen ist dies aber kaum der Fall – eben weil es, wenn es um Negatives geht, das Sexuelle nicht hineinzieht, sondern sich, wenn man so will, mit dem Exkrementellen begnügt. Wir haben ja im Deutschen eine Wendung, für die es in anderen Sprachen, soweit ich sehe, keine Entsprechung gibt: «auf Deutsch…» oder auch «auf gut Deutsch gesagt». Mit ihr kündigt man einen drastischen Ausdruck auf der Scheisse-Linie an oder man entschuldigt sich für ihn: «Das ist mir, auf (gut) Deutsch gesagt, scheissegal!» oder «Das ist mir scheissegal, auf (gut) Deutsch gesagt!» So etwas kann to say it in English oder pour le dire en français nicht bedeuten. So steht also das Deutsche – gerade feministisch gesehen – jedenfalls in diesem Punkt eindeutig besser da als die uns umgebenden Sprachen. Ein weites Feld, ich weiss, und deshalb wollte ich ja auch nur darauf hindeuten, ohne es zu betreten.
Und dann noch dies: das schweizerische Sprachsouterrain ist hier ausgeglichener als das bundesdeutsche (über das österreichische will ich mich hier nicht äussern): Das deutsche Urschimpf- und -beleidigungswort ist ohne Zweifel Arschloch. Ein von mir sehr bewunderter Zürcher Kollege, den ich durch namentliche Nennung nicht in meine Thematik hineinziehen will, teilte mir mit, dass sich in der Schweiz Arschloch und Schofseckel ungefähr die Waage halten würden. Aber der Seckel (mit oder ohne Schaf) ist ja, wie gesagt, ausserhalb des Südwestens in der Bundesrepublik unbekannt. Und jedenfalls: weder Schofseckel noch Arschloch kann man Frauenabwertung unterstellen. Man sagt es ja auch in aller Regel nur zu Männern. Und umgekehrt (Emanzipation!) sehen immer weniger Frauen ein, warum den Männern die Verwendung solcher Ausdrücke vorbehalten sein soll.
Eine Frage bleibt: Wie und warum ist es im Deutschen zu diesem Sonderweg gekommen? Sie kann ich leider nicht beantworten. Ich habe dazu bei anderen nichts Brauchbares gefunden und bin selbst auch nicht auf etwas Einleuchtendes gekommen. Klar ist nur, dass es da selbstverständlich nicht um Biologisches geht, sondern um Historisches, um Kulturelles, und dass man bis ins frühe Mittelalter zurückgehen müsste. Ich beschränke mich also hier auf die Feststellung «So ist es» und halte mit einem Gopfertelli! fest, dass es sich lohnt, weiterhin in dieser schmutzigen sprachlichen Wäsche – wissenschaftlich, natürlich – zu wühlen.
Hans-Martin Gauger bei «Zürich liest»: «Gopfertelli nonemal – vom Fluchen als Sprachgewalt (eine verfluchte Lesung)». Freitag, 25. Oktober, 20.00 Uhr, Casinotheater, Stadthausstrasse 119, Winterthur.