Ein Genre zwischen den Stühlen
Eine wissenschaftliche Annäherung an die literarische Reportage.
Ein lauer Luftzug weht durch das zerbrochene Fensterglas und lässt den alten Vorhang einen trostlosen Tanz aufführen. In der Ecke des Raumes steht ein Plastikstuhl, die staubige Glühbirne in einer von der Decke baumelnden Fassung ist sein einziger Begleiter. Weinend liegt das Mädchen auf dem Boden und drückt die tränennasse, heisse Wange fest auf den kühlenden Lehmgrund. Und plötzlich ist es passiert…
…der Leser befindet sich mitten in der Reportage. Und weil er schon viele Reportagen gelesen hat, weiss er auch genau, wie es weitergehen wird. Der Reporter wird die exemplarische, stimmungsbildende Eingangsszene in einen grösseren Zusammenhang stellen und mit Fakten und Zahlen unterlegt einen Ausschnitt aus einer Wirklichkeit fernab von den Erfahrungen des Lesers wiedergeben. Wahrscheinlich wird die Reportage über die Hungersnöte in Afrika, vielleicht aber auch über Kinderprostitution in Brasilien berichten. Zum Schluss wird der Reporter dem Leser ein Fazit oder einen Denkanstoss mit auf den Weg geben.
Dieses Musterwissen haben wir verinnerlicht, ohne dass es uns bewusst ist. Je nachdem, in welchem Kontext die Reportage erscheint, treten wir schon vor der Lektüre mit einer gewissen Erwartungshaltung an sie heran. Ist sie ein Bestandteil einer Zeitung oder eines Magazins, erwartet der Leser neben dem Miterleben durch die Augen des Reporters viele Hintergrundinformationen zu aktuellen Themen. Handelt es sich um eine Reportage in Buchform, wollen wir hingegen in erster Linie mit einer spannenden, umfangreichen Erzählung unterhalten werden und das Schicksal des Mädchens weiter mitverfolgen. Doch woher stammt diese konkrete Vorstellung von einer typischen Reportage? Was ist das für ein Genre, das uns so bekannt und dennoch schwer zu fassen ist?
Journalismus und Literatur als soziale Systeme
Jeder von uns hat eine Vorstellung davon, was die Literatur und der Journalismus zu leisten haben. Um eine Trennung zu vollziehen, wurden jedem der beiden sozialen Systeme bestimmte Rollen, Aufgaben und Funktionen zugeteilt. «Sozial» sind sie, weil sie auf gesellschaftlichen Übereinkünften über ihre Eigenschaften beruhen, die nicht natürlich gewachsen sind, sondern sich in einem Differenzierungsprozess entwickelt haben.
Vom Journalismus wird erwartet, dass Fakten die Grundlage sind, die Sprache sachlich und objektiv ist und ein Bezug zu einer sozial verbindlichen Wirklichkeit besteht. Die Literatur stellt hingegen Fiktionen dar, die Haltung ist subjektiv und persönlich. Nicht der Informationsgehalt, sondern ästhetische Kriterien gelten als Qualitätsmerkmale.
Doch was ist, wenn sich – wie hier – die Eingangsszene auf die dargestellte Weise nie zugetragen hat, die im Text enthaltenen Fakten aber auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden können? Hat der Reporter ein literarisches Werk verfasst, weil er die Informationen erzählend veranschaulicht hat? Handelt es sich um Fakten oder Fiktionen?
Genau diese Fragen sind es, die eine Zuordnung der Reportage zum Journalismus oder zur Literatur so schwierig machen. Es handelt sich dabei um ein Genre, das durch die wechselseitige Annäherung der beiden Systeme seine besondere Textqualität erhält. Eine exakte Definition ist deshalb trotz vieler Versuche bisher noch nicht gelungen.
Am häufigsten werden die Faktizität, der erzählende Stil, die glaubwürdige und nachvollziehbare Wiedergabe eines Wirklichkeitsausschnitts und die spürbare Präsenz und Standpunktnahme des Reporters ohne aktives Eingreifen in das Geschehen als Merkmale einer Reportage genannt. Allerdings fällt die Gewichtung der Eigenschaften jeweils sehr unterschiedlich aus. Wie stark welche Eigenschaft den Text prägen darf, bleibt ein Streitpunkt.
Eine hybride Form zwischen Journalismus und Literatur
Das für den Journalismus übliche dichte Netz an Fakten wird in einer Reportage aufgelöst und zugunsten einer besseren Veranschaulichung weitmaschiger arrangiert. Die Kerninformationen werden gestalterisch aufbereitet. Das geschieht zum einen durch das Verwenden einer aus der Literatur bekannten, bildhaften und ästhetisierenden Sprache, zum anderen durch die besondere spannungserzeugende Dramaturgie einer Reportage. Anders als bei den für den Journalismus typischen Nachrichtendarstellungsformen werden nicht die wichtigsten Neuigkeiten an den Anfang gestellt, sondern der Leser wird ohne Erklärung direkt an den Ort des Geschehens entführt: Zunächst wird ein Stimmungsbild erzeugt, das dann, allmählich, in einen umfangreicheren Wirklichkeitsausschnitt eingebettet und schliesslich mit Fakten untermauert wird.
Eine Reportage ist also stellvertretende Wahrnehmung. Dem Leser soll die Möglichkeit des Miterlebens gegeben werden. Fiktionen sind insofern erlaubt, als dass sie der Veranschaulichung des Faktengerüsts dienen und basierend auf den umfangreichen Recherchen in höchstem Masse wahrscheinlich sind.
Eine Reportage aus einer rein literarischen oder journalistischen Perspektive zu betrachten wird ihrer besonderen Textqualität folglich nicht gerecht. Reportagen weisen sowohl als literarisch wie auch als journalistisch geltende Qualitätsmerkmale auf und sind ein hybrides Genre zwischen Journalismus und Literatur, das sich mit jedem Text neu erfindet. Diese Definition mag sehr deutungsoffen sein, sie beschreibt damit aber genau die wesentlichste Leistung, nämlich das Sprengen der Gattungsgrenzen.
Der Ursprung einer langen Reise
Anders als das Finden einer Definition ist die literaturgeschichtliche Verortung der Reportage vergleichsweise einfach: Ein direkter Vorläufer der Reportage ist der Reisebericht, der zu den ursprünglichsten Formen von Literatur zählt. Schon 490 v.Chr. verfasst Herodot Reiseerzählungen, die als Urform der Reportage bezeichnet werden können. Bis in das 19. Jahrhundert hinein dienen Reiseberichte nicht nur der Unterhaltung, sondern sie sind auch eine wichtige Informationsquelle. Während der gesamten Entwicklung dieses Genres wird viel Wert auf eine erzählende Darstellung des Erlebten gelegt, allerdings erfolgt zu Beginn ein sehr undifferenzierter Umgang mit Fakten und Fiktionen. Bekannte Autoren wie Heinrich Heine oder Theodor Fontane sehen gerade darin die besondere Qualität von Reiseberichten.
Mit der Tendenz zum Massentourismus und zu neuen Medien wie Radio, Fotografie und Film verliert der Reisebericht Anfang des 20. Jahrhunderts an Bedeutung. Er wird durch andere, stärker dokumentierende Informationsquellen ersetzt. Auch die Herausbildung einer neuen Leserschicht hat starke Auswirkungen auf die Literatur und den Journalismus: Mit der Aufklärung erweitert sich der elitäre Kreis von Lesern, das Bürgertum wird zum Träger der öffentlichen Meinung. Im 17. Jahrhundert bilden sich erste einfache Formen von Zeitungen heraus und werden schnell zur wichtigsten Bezugsquelle für Neuigkeiten. Neben Berichterstattungen über politische Ereignisse prägen zunehmend feuilletonähnliche Unterhaltungsteile die Zeitungen. Fakten und Fiktionen existieren nebeneinander, Journalist und Schriftsteller bilden eine Personalunion.
Der Journalismus ist somit ursprünglich der Literatur entwachsen. Eine explizite Trennung erfolgt erst nachträglich im 19. Jahrhundert, als den beiden Bereichen jeweils bestimmte Aufgaben, Rollen und Funktionen zugeteilt werden.
Drum trenne nicht, was zusammengehört
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schlägt die Geburtsstunde der Reportage als eigenständiges Genre. Wichtige Wegbereiter wie Joseph Roth oder Ernst Toller begrüssen diese neue Art der Präsentation, doch sie wird auch ebenso heftig kritisiert. Die Reportage beweist, dass die festgelegte Trennung zwischen Journalismus und Literatur in der Praxis oft an ihre Grenzen stösst. Dabei handelt es sich bei der gegenseitigen Annäherung um nichts Neues. Das Verständnis von Literatur wird im Laufe der Jahrhunderte immer wieder neu definiert und durch neue Tendenzen abgelöst. Während z.B. in der Klassik und Romantik Ideale dargestellt werden sollen, beginnt mit dem Realismus im 19. Jahrhundert eine Hinwendung zur zeitgenössisch-alltäglichen Wirklichkeit. Im 20. Jahrhundert setzt sich die Einsicht durch, dass das Schildern der Wirklichkeit nicht genügt. Wichtige Einflussgrössen von Georg Weerth bis Bertolt Brecht nehmen eine Interpretation des Wahrgenommenen vor – sie geht mit einer neuen sozialkritischen Tendenz einher.
Die Blütezeit der Reportage zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist eng mit dem Namen Egon Erwin Kisch verbunden. Der am 29. April 1885 in Prag geborene Journalist und Schriftsteller gilt als Begründer und Vater der literarischen Reportage. Wie kein anderer setzt sich Kisch für die Akzeptanz der Reportage als Kunstwerk ein, er erhebt für dieses junge Genre einen Anspruch auf Literarität und Ästhetik. Bei den fiktionalen Elementen darf es sich laut Kisch allerdings nur um Schlussfolgerungen einer logischen Phantasie handeln, die der Veranschaulichung und emotionalen Wirksamkeit des journalistischen Rohstoffes dienen. Zeitgleich mit Max Winter hat Kisch erstmals im deutschsprachigen Raum die Recherchemethode des verdeckten Rollenspiels für seine Sozialreportagen angewandt. Wie arbeitsintensiv – aber auch wirksam – dieser investigative Journalismus ist, hat Günter Wallraff mit den von ihm ausgelösten Medienskandalen seit den 1960er Jahren eindrucksvoll bewiesen.
Was ist wirklich?
Unabhängig vom Kontext, in dem eine Reportage erscheint, wird von ihr erwartet, dass sie die Wirklichkeit, so weit wie durch die Sprache möglich, abbildet. Diese besondere Qualität ist es, die eine Verortung so schwierig macht; denn die Wiedergabe von Realität ist Definitionssache und diese mithin der wohl grösste Streitpunkt in der Literaturgeschichte. Schon in der Antike bezweifelt Platon die Möglichkeit, die Realität nachahmend darstellen zu können. Im Laufe der Zeit hat sich daraus ein Realismusstreit entwickelt, der im 19. und 20. Jahrhundert seinen Höhepunkt fand. Die Frage, ob die Realität objektiv wiedergegeben werden kann, wird auch heute noch gestellt. Es setzt sich aber verstärkt die Einsicht durch, dass eine Wahrnehmung ohne Standpunktnahme grundsätzlich nicht möglich ist, weshalb nicht zuletzt auch die strikte Trennung von Journalismus und Literatur einer Relativierung bedarf.
Die Zukunft der Reportage
Die Entwicklung der Medienwelt des 21. Jahrhunderts lässt sich mit einer deutlichen Tendenz zum «Infotainment» treffend bezeichnen. Auch wenn dieses Schlagwort vielfach negativ besetzt sein mag, weil damit ein Qualitätsverlust verbunden wird, hat das damit bezeichnete Phänomen dennoch seine guten Seiten für die Reportage: Der Bedarf an Informationen bei gleichzeitigem Entertainment rückt sie – und mit ihr den investigativen Journalismus – erneut ins publizistische Rampenlicht.
Auch wenn die Reportage für die tagesaktuelle Berichterstattung eher ungeeignet ist, wird sie ihren Platz in Magazinen, Zeitschriften und Büchern weiterhin behaupten, vielleicht in Fundamentalopposition zu obligatem publizistischem «Kurzfutter» sogar ausbauen. Im schnelllebigen Journalismus ist sie der ruhende Pol, der zum Miterleben einlädt.