Ohnmachtsposition
Oder: Warum man sich selbst fremd werden muss, um ein guter Kritiker und Leser zu sein.
Da sitzt er, der Literaturkritiker, den Stift in der Hand, und notiert, was ihm am Text, am «Fall», der vor ihm liegt, auffällt. Er sitzt da wie der Psychoanalytiker, aufrecht, in der Position der Macht. Vor ihm, vertikal hingestreckt und ausgeliefert, der Patient. Der Text.
Es ist der rechte Winkel der geometrischen Vernunft, die sich seit Descartes die Welt der Objekte untertan macht – und der sich der Mensch als neuzeitliches «subjektum» «unterworfen» hat. Dann bleibt uns nur noch eins – die Objekte, also die Bücher, nach den Regeln der Vernunft oder, noch schlimmer, des «gesunden Menschenverstandes», der sich bekanntlich in den Bestsellerlisten verkörpert, brav und gehorsam zu ordnen.
Das führt zu einer vertikal strukturierten Lesewelt, einer der Listen und Ranglisten. Doch vielleicht sollte man den Lesern lieber einen Weg weisen, wie sie die einzelnen Texte so entziffern wie einst die Zeichen auf einem Weg, damals bei den Jägern und Sammlern. Denn jeder Leser ist ja ein Jäger: Er jagt die eigenen Phantasmen.
Diese Jagd bereitet nur Lust, wenn die Fährte immer neu verläuft: Das Fazit der (Literatur-)Wissenschafter ist, dass man beim Lesen nicht nur im Bekannten herumdümpeln und bei der Spannungsstange gehalten werden will, sondern dass uns ein Text durch Regelverletzungen, unvorhersehbare Wendungen und kühne Metaphernsprünge aus dem Beliebigen herausreisst und dabei mit uns selbst konfrontiert. Dann erst werden weitere Schaltkreise im Hirn aktiv – und das Dopamin stürzt uns in tiefe Räusche. Wir suchen: unser unbekanntes Ich.
Doch dieses Ich steht nicht fest, es wird vielmehr, so vermutete Roland Barthes in erst kürzlich aufgetauchten Skizzen, vom «Je» (Ich) in ein «jet» aufgelöst, in einen «Fluss» der Triebe. Dabei kommt es wie in der Psychoanalyse zu Übertragung und Gegenübertragung – gerade die Klassiker, deren Sinn bereits festgestellt ist, muss man beim Lesen durch die eigene Lust am Text wieder erotisieren. Das Erotische nun liegt dort, meint Barthes, wo der Stoff klafft, im Pulsieren und Stocken, im Aussetzen des Sinns, wenn die Sinnlichkeit spricht.
Die meisten erfolgreichen Texte sind geschwätzig, sie vollführen eine kunstvolle Onanie, doch bleiben sie dabei kalt und abgeschlossen in ihrer markttauglichen Perfektion. Der plappernde Plaudertext langweilt, weil er, so Barthes in einer jüngst entdeckten Notiz im Nachlass, «einen hygienischen Automatismus» darstellt.
Andere Texte aber laden zum Spiel des Verführens ein, der Leser wird zum «drageur», der an jeder Ecke einen unerwarteten Sinn «aufreisst», um mit ihm ein kurzes Abenteuer, ein erstes Mal zu erleben.
Kusch, Autor, kusch!
Der Autor kuschelt sich wie der Neurotiker auf der Couch und kuscht. Husch ins Körbchen, sagt der Analytiker zu den Neurosen, und der Neurotiker nickt. Husch ins Wörtchen, sagt der Kritiker, und der Autor kuscht.
Und das Publikum? Klatscht. Der Dressurakt ist gelungen. Der Autor liefert dem Leser, was ihm der Kritiker vorschreibt, und der Leser liest, was ihm der Kritiker verschreibt. Das ist: Lesen als Strafkolonie.
Dabei aber kuscht der Kritiker vor sich selbst, vor jenem Selbst, dessen Rolle er brav ausführt, ohne zu ahnen, dass das Lesen letztlich eine Suche nach einem anderen Ich ist, das sich allen Zuschreibungen entzieht.
Das Ich wird zum Anderen, so wie sich in den Übersetzungen die eigene Sprache ins Fremdartige weitet. Die Aufgabe des Kritikers ist es genauso wenig wie die Aufgabe des Übersetzers, den fremden Text den Lesern so zu übersetzen, dass alles klar ist. Die gute Lesbarkeit einer Übersetzung ist deshalb gerade keine Gewähr, dass hier ein «guter» Übersetzer am Werk war, sondern eher einer, der das Original verrät. Genauso verraten Kritiker, die sich an Plot und Pointe entlanghangeln, den Text – und letztlich eben sich selbst. Denn so wie der wahre Übersetzer die Fremdheit des Fremden in die eigene Sprache einfliessen lassen sollte, sollte auch der Kritiker den Text nicht erklären und bewerten, nicht mit Etiketten in dieses oder jenes Fach ablegen, sondern den Überschuss andeuten, der in jedem reichen Werk wütet.
Was ist damit gemeint? Jedes grosse Werk weist über sich hinaus, um uns, die Leser, in einer Ekstase aus uns selbst herauszureissen und hinauszuweisen in jenes andere Ich, das auch dem Autor die Hand führte.
Die medialen Grosskritiker mögen mit dem Parlando des Kritikervaters Sainte-Beuve ein Bonmot ans andere reihen und Listen der wichtigen Werke und Autoren erstellen, sie verfehlen dabei das Wesen der Literatur, da sie sich nicht der Heterogenität ihres Nichtwissens aussetzen.
Sainte-Beuve behauptete, die Präzision und Kälte von Flauberts Stil sei kein Zufall – schliesslich sei sein Vater Arzt gewesen. Doch der Autor, so meinte Marcel Proust 1908 gegen Sainte-Beuve, sei nicht jener Autor, der über das Parkett der Pariser Gesellschaft wandle, sondern «jener kleine Junge in mir, der zwischen Ruinen spielt». Er allein, so meint Proust, könnte ein grosses Werk schreiben. Er allein aber auch kann, als einziger, ein grosses Werk erkennen.
Auf der Suche nach dem verlorenen «punctum»
Roland Barthes hat das Geheimnis seiner Literaturkritik nicht in seinen Schlüsselwerken zur Literatur gelüftet, sondern in einem Buch über die Photographie: «Die helle Kammer». Das «studium», so meint er dort, also die ganze weite Welt des Wissens, mag zwar eine Photographie einordnen und bewerten, man kann an ihr alles Mögliche abhandeln, die Politik, die Soziologie, die Psychologie. Doch Barthes interessiert ein ganz anderes Moment: Das «punctum». Es ist ein unerklärbares Detail, an dem das Auge hängen bleibt.
Das Körnige der Photographie lässt uns stolpern – aus der Welt des Wissens ins Nichtwissen hinein. Das Punktum zerreisst wie das Trauma den Schleier unseres Bewusstseins, und durch den Riss tritt das Andere, Vergessene, das Ureigenste in uns hinein. Jeder Leser muss an diese Leerstelle nicht ein Abbild seines Wissens, sondern den Schattenriss seiner eigenen grössten Sehnsucht projizieren.
Der Wissende, der Schüler Sainte-Beuves, liest voll «plaisir», voll Freude und Selbstgenuss. Diejenigen Kritiker und Leser dagegen, die Barthes folgen, suchen eine «jouissance», die Lust der Ejakulation, in der das Subjekt mit dem Objekt verschmilzt, wo das Bewusstsein nur noch Bewusstseinsstrom, reiner Fluss ist. In diesen Momenten wird man auf sich selbst zurückgeworfen und kann sich – endlich – nicht mehr hinter einer schützenden Vernunft verstecken.
Das punctum
Statt sich in der Weite des «studiums» zu verlieren, sollten die Kritiker also jenes «punctum» suchen, an dem Herz und Hirn hängen bleiben. Heute sind wir wohl am medialen Nullpunkt der Literaturkritik angekommen, wo es den Kritikern weniger darum geht, ihr Ich zu erweitern, als vielmehr darum, panisch um Aufmerksamkeit zu buhlen. Da eröffnet sich die Möglichkeit, die Literaturkritik ganz neu zu erfinden.
Die bisherige Deutungspraxis war von einer starren Machtdynamik geprägt: Einer sitzt, einer liegt, der Sitzende und Deutende mit dem Kopf hoch hinauf zu Apollo, zur Vernunft, die das Dionysische bändigt. In der Psychoanalyse legt sich der Patient wenigstens noch freiwillig hin, wählt sich seinen Analytiker aus, während sich die Autoren ja ihre Deuter meist nicht aussuchen. Und so droht in der oberflächlich psychoanalytisch geschulten Literaturwissenschaft, wo die Texte wie in eine Klinik gegen ihren Willen eingeliefert werden: das Kuschen. Man legt bestimmte Konzepte und Muster, etwa das ödipale Muster, über den Rätseltext.
Als Interpret aber sollte man nicht wie eine Logos-Spinne über dem «Opfer» schweben und den Giftstachel des grausamen Allwissens in den Textkörper treiben, sondern freischwebend warten, bis sich aus den Wolken der Worte ein Gebilde formt, eine Deutung.
Solches Deuten kann man nie «beherrschen». Die Position der Macht muss einer der Ohnmacht weichen, das Wissen dem Nichtwissen. Analytiker und Patient, Autor und Leser machen gemeinsam eine Geschichte, als Ebenbürtige, frei von Machtgehabe.
Die Literatur und die Psychoanalyse haben einiges gemein, beides sind sie, ernsthaft durchgeführt, je unendliche, nie abgeschlossene Prozesse. Die Literaturkritik sollte sich nicht an einem falschen Verständnis des Therapieprozesses orientieren und den Text als machtlosen «Patienten» sehen. Freud hat mit seinen Patienten über seine eigenen Erzählungen gesprochen, sie mit ihnen gedeutet. Bei einem Basler Patienten, Ernst Blum, erwähnt er Hamlet und Ödipus und meint: «Meine Deutung dieser Werke ist keine endgültige Deutung, denn diese Werke haben noch viele Dimensionen.» Peter von Matt nennt das die «Überdeutung». Ein Überschuss von Sinn. Die Literatur wird dann zum Fest, das sich der ökonomischen Vernunft entzieht.
Gute Kritiker und gute Leser erhoffen sich von der Lektüre, dass der Text sie selber aus der vertikalen Position des gesicherten Wissens hinausbringt, in die Nähe zur Paranoia, wo aller Sinn so schief zur Welt steht, dass er sie in den Exzess und in die «innere Erfahrung» der Ekstase treibt – in den Schock der Schönheit.
Stefan Zweifel
ist Übersetzer und Kulturjournalist. Letzte Veröffentlichung: «Shades of Sade. Eine Einführung in das Werk des Marquis de Sade» (Matthes & Seitz, 2015).