«Tell me another»
Mit den Mythen ist es so eine Sache. Sie zu entzaubern macht Spass, aber nicht unbedingt klug. Sitzt der emsige Aufklärer doch selbst dem Mythos auf, ein reines Gemüt hätte einst an diese oder jene Sage aus tiefster Seele geglaubt. Wer das meint, hat nichts begriffen. So segeln die Pfeile, die der emsige Entzauberer in […]
Mit den Mythen ist es so eine Sache. Sie zu entzaubern macht Spass, aber nicht unbedingt klug. Sitzt der emsige Aufklärer doch selbst dem Mythos auf, ein reines Gemüt hätte einst an diese oder jene Sage aus tiefster Seele geglaubt. Wer das meint, hat nichts begriffen. So segeln die Pfeile, die der emsige Entzauberer in Richtung mythischer Luftschiffe feuert, vom Blauen ins Ungefähre. Was ihre Small-Talk-Qualitäten indes nicht mindert. Und auch gerade zu Tell führt.
Dass der Schweizer Nationalheld seinen Ruhm einem exilierten Schwaben verdankt, der das «Mährchen mit dem Hut u. Apfel» nur widerwillig unter die Klassikerfeder nahm, ist amüsant. Dass Schiller anders als Goethe, der den Stoff von einer Reise mitbrachte und dem Freund zur Linderung seiner Schaffenskrise empfahl, nie einen Fuss auf Schweizer Boden gesetzt hat, ist bezeichnend. Dass Schiller in seinem Schreibtisch zwecks Schreibstimulation haufenweise Äpfel verrotten liess, mag ihm den Stoff unbewusst nähergebracht haben. Dass er seiner späteren Frau die Tell-Figur im Revolutionsjahr 1789 noch als «rohen» Revoluzzer-Schmarrn madig machte und sie auch 1804 als spröden Sonderling zeichnete, gibt Anlass zu komplexen Charakterstudien. Nicht allein Tells, sondern auch der Dichter, die in Wurfweite der Höfe von der Freiheit sangen. All dies lässt sich trefflich erkunden, nur erklärt es eben nicht die Wirkmacht des Mythos.
Denn nicht obwohl, sondern weil er historisch gesehen ein fiktionales Luftschiff ist, verleiht der Mythos dem «individuellen und kollektiven Seelenleben» Flügel. So musste der Schweizer Publizist J. R. von Salis im Zweiten Weltkrieg keine Sekunde lang «an die Historizität der Handlung auf der Bühne» glauben, um Tells «Kraft des Wortes» zu erliegen. Nicht jeder Fakt ist Fiktion, aber jede Fiktion ist ein Fakt. Mythen sind Magnete, die Begehren bündeln. Immer zu schön, um wahr zu sein. Aber solange für die sogenannte Wirklichkeit das Gegenteil gilt, wird es auch weiterhin heissen: «Tell me another.»
Christoph Steier ist Literaturwissenschafter am Deutschen Seminar der Universität Zürich und Koordinator des Doktoratsprogramms «Deutsche und Nordische Philologie».